Barrieren überwinden? Teilhabe ermöglichen!

23.10.2025

Wenn wir an Barrieren für Menschen mit Behinderungen denken, dann haben wir oft bestimmte Bilder im Sinn: Ein Mensch im Rollstuhl an der Treppe oder ein blinder Mensch vor einer Hinweistafel ohne Blindenschrift. Die Barrieren, denen sich Menschen mit Behinderung gegenübersehen, sind jedoch vielfältiger und oft tiefgehender. Das Problem: fehlendes Mitspracherecht und fehlende Mitbestimmung. Politisch Verantwortliche, Medien, Expertinnen und Experten sprechen viel über die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen – und das meist in bester Absicht. Was dabei zu kurz kommt, ist die Sicht der von Gesetzen und Regulierungen betroffenen Menschen selbst. Dabei sind sie die wahren Expertinnen und Experten für ihre Lebenswirklichkeit.
Dieser Blogbeitrag gibt einen Einblick in das Projekt „Barrieren überwinden – Ein inklusives Miteinander im Fachverband“, das aus dem Fachverband für Teilhabe in der Diakonie Mitteldeutschland entstanden ist, Menschen mit Behinderungen eine Stimme gibt und mehr Beteiligung ermöglicht.

Kontakt

Sabine Wetzel-Kluge Referentin für Psychiatrie und Sucht Thüringen; Gesundheits- und Krankenhausmanagement
Merseburger Straße 44
Halle 06110
(0345) 12299-341

Daniel Ebner Referent Teilhabe und Sozialpsychiatrie Sachsen-Anhalt
Merseburger Straße 44
Halle 06110
(0345) 12299-343
Das Projekt „Barrieren überwinden“ vereint Menschen aus Sachsen-Anhalt und Thüringen, aus Werkstätten und Wohngruppen, Fachkräfte, Klientinnen und Klienten miteinander. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Für sich selbst einstehen – gar nicht so einfach!

Ein Mittwochmorgen in Halle (Saale). Der Raum in der Jugendherberge ist gut gefüllt, die Stimmung ausgelassen. Die Treffen der Teilnehmenden im Projekt „Barrieren überwinden“ finden an verschiedenen Orten in Mitteldeutschland statt – immer in Präsenz – und werden von Mitarbeitenden der Diakonie moderiert. Die beteiligten Menschen haben sich im Laufe des vergangenen Jahres bereits in Halle, Halberstadt und Neudietendorf getroffen. Die Teilnehmenden sind Menschen mit Behinderungen, die in verschiedenen diakonischen Einrichtungen arbeiten, leben und sich engagieren. Sie kommen allein oder bringen eine Begleitperson mit.

Ganz am Anfang des ersten Treffens steht die Themenfindung: Welche Bereiche sind uns in unserem Leben wichtig? Worüber würde ich hier gern sprechen? Und wo nehme ich Barrieren in meinem Leben wahr? Nach einer Sammlung und Auswertung sind die Themenbereiche schnell geklärt: Wohnen, Arbeit und Gewaltschutz sind die Themen mit den meisten Stimmen. Dann geht es in die Arbeitsphase. In Kleingruppen wird diskutiert, ausgewertet, Erfahrungen werden berichtet und gesammelt. Begleitend dazu gibt es thematisch passende Inputs von den Diakonie-Mitarbeitenden, zum Beispiel zu den gesetzlichen Grundlagen wie dem BTHG, dem Bundesteilhabegesetz. In diesem Prozess sprechfähig zu werden und für sich und seine Anliegen einzustehen – das ist gar nicht so einfach. Deshalb hat die Ermutigung, das Empowerment der Teilnehmenden einen hohen Stellenwert im Projekt. Mit kleinen Übungen, Rollenspielen und anderen Methoden werden die Menschen mit Behinderungen gestärkt, ermutigt und in ihrer Sprachfähigkeit unterstützt. Nur so können alle Gedanken und Themen tatsächlich auf den Tisch kommen.

Die Arbeit in Kleingruppen hat bei den Projekttreffen einen wichtigen Stellenwert. Hier wird diskutiert, zugehört, Sichtweisen werden eingebracht und erläutert. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Die Motivation der beteiligten Menschen ist dabei sehr unterschiedlich. „Meine Motivation ist, Menschen mit Behinderungen zu helfen. Das war schon immer so,“ sagt Peter Marx. Er ist ein Teilnehmer des Projekts und engagiert sich seit vielen Jahren für die Mitbestimmung von Menschen mit Behinderungen, unter anderem als aktiver Werkstattrat. Er hat auch an der Entstehung übergeordneter Gremien, wie der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstatträte in Sachsen-Anhalt und an Gesetzgebungsverfahren mitgewirkt. Er kennt den politischen Betrieb, die Arbeit in Gremien und die Wirklichkeit in Werkstätten sehr gut.
Dafür hat er verschiedene Kompetenzen erworben. „In meiner langjährigen Tätigkeit habe ich mir vieles allein beibringen müssen,“ sagt er auch mit Blick auf seine eigene Biografie. Geboren und aufgewachsen in der DDR ist der an Epilepsie Erkrankte schnell auf hohe Hürden und Ausgrenzung gestoßen, sowohl in der Schule als auch im Arbeitsleben. Doch davon hat sich Peter Marx nicht unterkriegen lassen und stets bewiesen, dass er selbst seine Kompetenzen und Fähigkeiten am besten einschätzen kann. Im Projekt „Barrieren überwinden“ will er jetzt auch andere Menschen mit Behinderungen dazu ermutigen, für sich einzutreten, außerhalb dieses Schutzraumes ihre Stimme zu erheben und vor allem Respekt für sich einzufordern. „Das ist mit ganz doll wichtig: dass die Menschen akzeptiert werden, wie sie sind,“ sagt Peter Marx dazu.

Peter Marx engagiert sich seit vielen Jahren für die Rechte und die Mitbestimmung von Menschen mit Behinderungen. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Matthias Thümmel ist im Projekt mit einer anderen Sichtweise unterwegs. Der ausgebildete Heilerziehungspfleger ist als Assistenzperson für die Vertreterin aus dem Bewohnerbeirat seiner Einrichtung dabei, die ebenfalls im Projekt mitwirkt. Die Assistenzpersonen fahren, begleiten und unterstützen so gut wie möglich, damit die Menschen mit Behinderungen sich im Projekt vollkommen auf ihre Mitwirkung konzentrieren können und sich um organisatorische Fragen nicht kümmern müssen.
Matthias Thümmel nimmt diese Aufgabe gern wahr und genießt besonders die gute Arbeitsatmosphäre im Projekt: „Ich fand es klasse, dass wir irgendwie alle Anfänger sind im Prozess miteinander. Wir waren auf einer Ebene. Wir haben uns schnell auf das „Du“ geeinigt. Das hat das Miteinander zwischen Werkstattleiter und Klienten schon verbessert.“ Nur mit einem guten Miteinander, Gesprächen auf Augenhöhe und einer soliden Vertrauensbasis ist die Arbeit an teilweise sehr sensiblen Themen wie Arbeit, Wohnen und Gewaltschutz überhaupt möglich. Matthias Thümmel ist dabei wichtig, „…, dass die Betroffenen auch besser hineingenommen werden. Dass nicht über sie geredet wird, sondern mit Ihnen.“

Matthias Thümmel reist als Begleitperson zu den Projekttreffen und kann seine langjährigen Erfahrungen aus der Heilerziehungspflege, der Nachtwache und aus weiteren beruflichen Stationen einbringen. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Wohnen – Gemeinschaft mit Herausforderungen

Wohngemeinschaften und Wohngruppen ermöglichen eine gute Gemeinschaft, Beisammensein, gemeinsames Kochen, leben und lachen. Doch frei von Konflikten sind Wohngemeinschaften nie. Das trifft auf Studierendenwohnheime genauso zu wie auf Wohngruppen für Menschen mit Behinderungen. Wie man die Konflikte lösen kann, einen guten Umgang miteinander findet, die Mitbestimmung aller Bewohnerinnen und Bewohner gestalten und natürlich auch Partnerschaften und Beziehungen leben kann, wurde in einer Teilgruppe diskutiert und festgehalten.

Gewaltschutz – Konflikte und Streit friedlich beilegen

Konflikte könne zu Gewalt führen. Damit das nicht passiert, braucht es gute Strategien und einen umfangreichen Werkzeugkasten der gewaltfreien Konfliktlösung. Die Teilnehmenden in dieser Teilarbeitsgruppe haben sich tiefergehend mit den folgenden Fragen auseinandergesetzt: An welchen Kontaktpunkten entsteht Gewalt? Wie muss der Schutz vor Gewalt besser gestaltet werden? Wie gehen wir mit Gewalt in der Partnerschaft und Familie um? Sensible Themen werden in diesem geschützten Projektraum offen angesprochen. Das funktioniert nur mit viel Vertrauen und einer sensiblen Moderation.

Die Mitarbeitenden der Diakonie Mitteldeutschland organisieren und moderieren die Projekttreffen und sichern auch die Ergebnisse aus den Gruppenarbeiten. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Arbeit – Die Werkstatt ist mehr als ihre Stereotype

Wenn es um „Werkstätten für behinderte Menschen“ (WfBM) geht, dann denken viele an töpfern, einfache Bastelarbeiten oder „Beschäftigungstherapie“. An der Wirklichkeit geht das weit vorbei. Die Arbeitsformen in den Werkstätten sind so vielfältig, dass wir sie hier gar nicht alle aufzählen können. Das reicht vom Außenarbeitsplatz mit der körperlich anspruchsvollen Landschaftspflege, über die qualitativ hochwertige Tätigkeit als Barista in einem Inklusions-Café‘ bis hin zur Industriearbeitsstelle mit CNC-Fräse und Kundenaufträgen für verschiedenste Unternehmensbranchen deutschlandweit.

Für einige Menschen wird die Werkstatt zum Sprungbrett auf den ersten Arbeitsmarkt, für andere Menschen ist sie ein Schutzraum. Die Werkstattarbeit strukturiert den Tag in einer gewohnten Umgebung und ermöglicht eine sinnerfüllte Tätigkeit. Im Projekt wird viel über die Erfahrungen in den Werkstätten, über Fragen der gerechten Entlohnung und über die Verpflegung, über Entwicklungsmöglichkeiten und natürlich auch Hindernisse gesprochen. Fakt ist: Werkstätten und die Werkstattmitarbeitenden leisten mit ihrer Arbeit einen wichtigen Beitrag zum Wertschöpfungsprozess in Sachsen-Anhalt und Thüringen. Doch das ist leider vielen Menschen außerhalb der Werkstatt kaum bekannt. Was kann das Projekt hier leisten? Die Lösung ist schnell gefunden: eine Videoreihe in den sozialen Medien soll die Vielfalt der Werkstattarbeit authentisch, ehrlich und im Sinne der dort beschäftigten Menschen darstellen. Wie kann das realisiert werden? Fachexperten werden gesucht, schnell gefunden und kurzerhand als Referenten in das Projekt eingeladen. Außerhalb der Projekttreffen werden Videos gedreht und geschnitten und anschließend gemeinsam ausgewertet. Die Ergebnisse sind bald auch auf unserem YouTube-Kanal zu sehen.

Es bleibt nicht nur bei der Theorie. Für die Videoreihe zur Werkstattarbeit wurden schon erste Entwürfe gedreht und anschließend in den Gruppen gemeinsam besprochen. Mehr dazu ist bald auf dem YouTube-Kanal der Diakonie Mitteldeutschland zu sehen.

Das „Miteinander“, das im Projektnamen steht, ist deutlich spürbar. Die Beteiligten haben schnell Arbeitsabläufe und Routinen verinnerlicht, sind im Projekt gewachsen, haben ihre Vorstellungen, Ideen und Erfahrungen eingebracht. Ein Ansatzpunkt, der Schule machen darf. Die Fortführung des Projekts im Jahr 2026 wird bereits geplant.

Hintergrund: „Barrieren überwinden – Ein inklusives Miteinander im Fachverband“ ist ein Projekt der Diakonie Mitteldeutschland, das von der Aktion Mensch gefördert wird. Mehr Beteiligung, mehr Mitsprache und mehr Selbstwirksamkeit sind die Ziele des Projekts. Dafür wurden Menschen aus unterschiedlichsten diakonischen Einrichtungen in Mitteldeutschland zur Mitwirkung eingeladen.