#diakoniedigital: Dient digitale Pflege dem Leben?

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OKR Christoph Stolte
Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland

Merseburger Straße 44, 06110 Halle (Saale)
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In der Pflege können Digitalisierung und technische Hilfsmittel die Pflegekräfte entlasten, Sicherheiten schaffen und Zeitgewinn. Aber es gibt ein Spannungsfeld zwischen Beobachtung und Überwachung, zwischen Unterstützung und Beschränkung von Freiheit. Der Einsatz neuer Technologien soll dem Leben dienen, auch und gerade dort, wo Menschen Schutz und Hilfe brauchen.

Es ist wunderbar, dass immer mehr Menschen ein hohes Lebensalter erreichen, oftmals lange in guter Gesundheit und großer Mobilität. Wir haben daher kein grundsätzliches Problem, wenn Menschen Pflege und Alltagsunterstützung benötigen. Wir haben ein Problem, diese gesellschaftlich zu organisieren und vor allem menschenwürdig zu leben. Und genau hier setzt Digitalisierung ein.

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Der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Mitteldeutschland, OKR Christoph Stolte, sprach am 11. Januar auf dem Neujahresempfang der Kirchen in Jena über Pflege und Digitalisierung (Foto: Archiv)

Digitale Alltagsunterstützung und Lebenshilfe
Pflege und Alltagsunterstützung sind eine besondere Form der persönlichen Zuwendung und zwischenmenschlichen Interaktion. Sie bedeuten Fürsorge und Hilfestellung zum Leben. Ein Ersatz der menschlichen Zuwendung durch Maschinen kann ich mir ohne Verlust von Würde nicht vorstellen. Deshalb ist gerade der Mangel an Pflegekräften in Krankenhäusern, stationären Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegediensten ein so ein großes Problem. Pflege bedarf fachlich fundierter Abläufe und zugleich empathischer Zuwendung.

Die Frage an das Thema Digitalisierung ist daher nicht, wie diese Pflege ersetzt, sondern wie diese zwischenmenschliche Zuwendung in einer Art und Weise technisch unterstützt werden kann, das ein größeres Maß an zwischenmenschlicher Zuwendung möglich wird.

Digitale Pflegedokumentation entlastet Pflegekräfte
In der Altenpflege nimmt die Dokumentation der erbrachten Pflegeleistungen viel Zeit in Anspruch. Zeit, die für den Dienst am Menschen fehlt. Und nicht wenige Schwestern und Pfleger würden gern mehr mit den Patienten arbeiten.

Stellen sie sich vor, sie hätten eine Alexa, ein Siri oder einen anderen Computer, der per Sprachaufzeichnung die Pflegedokumentation erstellt. Dann könnte die Schwester sich dem Patienten intensiv zuwenden und gleichzeitig würde die Pflegedokumentation erstellt. Sie würde dem Patienten beim Anziehen, Waschen etc. verbal mitteilen, was sie gerade tut und der PC zeichnet das parallel auf.

Und wenn eine Verrichtung vergessen wird, würde der Computer vielleicht sogar nachfragen. Meiner Ansicht nach wäre dieses eine sinnvolle technische Unterstützung, die zu einer höheren Pflegequalität führen würde.
Aber Vorsicht: Wenn das als Chance gesehen wird, die Personalmenge an Pflegekräften zu verringern, ist das der falsche Weg. Der Gewinn und die Gefahr des Verlustes von Pflegequalität liegen eng beieinander. Zählt der Gewinn an Lebensqualität oder nur die Effektivität im Arbeitsablauf? Oder finden wir uns damit ab, dass es an Pflegekräften fehlt und investieren weniger in Personalgewinnung und -ausbildung und dafür gleich in Roboting?

Denken wir das Bild noch ein wenig weiter. Nach dem Wecken benötigt die Schwester einen Lifter, um den gewichtigen Patienten aus dem Bett zu heben und in den Rollstuhl zu setzen. Da muss sie erst das Patientenzimmer verlassen, um dieses technische Gerät zu holen. Wenn aufgrund der Worte „Ich benötige den Lifter“ der Sprachcomputer den selbstfahrenden Lifter ordern könnte, wäre der Patientenkontakt ohne Unterbrechung. Und zwar nicht, damit es schneller geht, sondern um die Minuten zu nutzen, die der Lifter benötigt, um in das richtige Zimmer zu kommen. Jetzt mit dem Patienten einfach reden, über sein Befinden, das Wetter, die Enkel. Begegnung und gegenseitige Wahrnehmung machen den Moment lebenswert.

Ich bin kein Experte für technische Pflegehilfsmittel und digitale Assistenzsysteme, aber diese kleine konkrete Vorstellung zeigt ein entscheidendes Kriterium für die Anwendung neuer vernetzter digitaler Produkte auf: Dienen sie dem Leben, der menschlichen Begegnung, der persönlichen Wahrnehmung und Wertschätzung? Ermöglichen Sie, dass der Patient mehr Zuwendung erlebt? Ermöglichen Sie, dass die Schwester oder der Pfleger eine größere Zufriedenheit mit seinem Dienst erlangt, denn um des Menschen willen hat er, hat sie diesen Beruf gewählt?
Oder dient die Technik dem Ersatz des Menschen unter Wegfall zwischenmenschlicher Interaktion, dem ökonomischen Nutzen des Unternehmens oder des Kostenträgers? Dient die neue Technik einem Leben, das sich als solches anfühlt? Das sind wichtige Leitfragen.

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#diakoniedigital – Veränderungen gestalten. Das ist das Jahresthema der Diakonie Mitteldeutschland. In unseren Blogbeiträgen und Veranstaltungen können Sie sich zum Thema informieren (Foto: Archiv)

Digitale Haustechnick in der häuslichen Pflege
Es ist gut, dass immer mehr Menschen mithilfe von Angehörigen oder Pflegediensten länger in der eigenen Häuslichkeit bleiben können, wo sie sich wohlfühlen, wo sie Heimat erleben.
In den vergangenen Jahren hat sich sehr schnell eine große Breite an digitaler Haustechnik entwickelt. Es wäre schon hilfreich, wenn eine mobilitätseingeschränkte Person mittels ihres Tablet-Computers sehen kann, wer vor der Haustür steht, das Licht in der Wohnung steuern, dieses als Telefon bedienen kann etc. Und wenn ein kleiner Roboter so freundlich ist, an regelmäßiges Trinken zu erinnern und ein Getränk aus der Küche zu holen, dann ist das eine große Hilfe und Gesundheitsförderung.

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Dieser Robotertisch verfolgt mit Hilfe von Sensoren einem Menschen im Haushalt automatisch. Bewegungseingeschränkte Menschen können sich hier abstützen und Dinge transportieren lassen. Nützliches Helferlein oder zusätzliche Stolpergefahr? Das wurde auch auf dem Diakonie-Fachtag am 31. Januar in Schkeuditz diskutiert. (Foto: Tristan E. Fürstenau)

Und wie ist das mit „Internet of Things“, z.B. in Kleidung, die unmerklich im Hintergrund die Vitaldaten erfasst und an den Hausarzt oder die Sozialstation übermittelt? Wie „von Geisterhand“ wird der einzelne Mensch überwacht. Der kleine Chip im Arm misst kontinuierlich die Blutzuckerwerte, steuert die Insulinpumpe und dokumentiert alle diese Werte. Sehr schnell werden entsprechende Geräte auf den Markt kommen, wenn sie es nicht schon gibt.

Aus diakonischer Perspektive frage ich aber zugleich: Ist das dann eine Hilfestellung für Wohlhabende oder wird diese Hilfe auch denen zu Gute kommen, die zusätzlich zur kleinen Rente und der Leistung der Pflegekasse auf Sozialhilfe angewiesen sind? Wie sieht es dann aus mit Unterstützung aller Menschen und dem Thema Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft?

Oder wird der Kostenträger sagen: Der kleine Roboter ist aber viel billiger als die Schwester der Diakonie Sozialstation? Der kann das Essen bringen und die Kompressionsstrümpfe anziehen. Das reicht dann doch aus, oder?
Ich stelle wieder die Frage: Dient die Technik dem Leben? Persönliche Pflege ist eben mehr als eine technische Verrichtung, sie ist Begegnung. Es ist also immer eine Frage der technischen Möglichkeiten und des Einsatzes, der das Leben, das auch als Leben wahrgenommen wird, fördert.

Wo liegen Konflikte zwischen Klientenschutz und Freiheitsrechten?
Mein letzter Punkt bringt uns in eine ethische Konfliktsituation:
In einem Pflegeheim lebt ein an Demenz erkrankter alter Herr, der sich gerne bewegt und spazieren geht. Zugleich ist er in seiner Orientierung eingeschränkt, verläuft sich, verlässt das Gelände ohne sich im modernen Straßenverkehr zurecht zu finden.

Was tun? Es könnte sein wie bei James Bond. Da wird ein kleiner Chip unter die Haut gesetzt. Und schon ist dieser Mensch immer überwacht. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können auf den Monitoren im Pflegeheim immer genau sehen, wo sich der Herr befindet. Nähert er sich der Einfahrt, schließt sich automatisch das Tor und die Mitarbeitenden werden benachrichtigt. Nach dem Kriterium „Sicherheit“ haben sie ein Maximum erreicht. Und der Herr selber merkt es gar nicht.

George Orwell veröffentlichte im Jahr 1949 einen Roman mit dem Titel „1984“. Darin wird ein technisch perfekter Überwachungsstaat beschrieben. Big Brother is watching you! Wollen wir so leben? Freiheit gehört zu den unverletzbaren Grundrechten eines Menschen. Darf diese unter dem Aspekt der maximalen Sicherheit eingeschränkt werden? Was ist die Alternative? Die Türen des Heimes abschließen? Den Gang in den Garten zu reglementieren, immer dann, wenn Betreuungskräfte oder Angehörige verfügbar sind?

Hier steht das Grundrecht auf Freiheit und Selbstbestimmung gegen notwendige Sicherheit. Was ist richtig? Es gibt keine einfache und schon gar keine eindeutige Lösung. Aber jedes Altenpflegeheim ist mit diesen Fragen konfrontiert. Es bedarf einer Abwägung der Interessen und Werte, kein schwarz und weiß, sondern nur verschiedene Grautöne. Es bedarf der Entscheidung der diakonischen Einrichtung, was sie verantworten kann und was nicht, auch wenn Angehörige es anders wollen. Und es bedarf eines konstruktiven Gesprächs mit Bewohnern und Angehörigen, wie das Leben gestaltet sein soll, realistisch umsetzbar mit den vorhandenen personellen Ressourcen.

Hintergrund: OKR Christoph Stolte sprach auf einem Neujahrsempfang am 11. Januar über das Thema Digitalisierung und Pflege. Das Jahresthema der Diakonie Mitteldeutschland 2019 heißt #diakoniedigital – Veränderungen gestalten. Als größter Wohlfahrtsverband der ostdeutschen Bundesländer sehen wir für uns die spannende Aufgabe, die Digitalisierung der Gesellschaft im Sozial- und Gesundheitswesen konstruktiv und kritisch zu begleiten und die Diakonie in Mitteldeutschland zukunftssicher aufzustellen. Ihr Interesse am Thema #diakoniedigital ist geweckt? Der evangelische Krankenhausverband befasst sich am 29. September in Schkeuditz mit dem Thema „Digitalisierung ethisch gestalten.“ In unserem Veranstaltungskalender finden Sie Termine und Hinweise.

Text: OKR Christoph Stolte