Digitalisierung: Ethik und Teilhabe im Fokus

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OKR Christoph Stolte
Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland

Merseburger Straße 44, 06110 Halle (Saale)
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(26. November 2019) Digitalisierung schreitet schnell voran, ganz gleich, wie wir dazu stehen. Eine Ablehnung hat große Folgen und muss gut überlegt werden. Aufhalten werden wir diesen globalen Trend nicht. Ich plädiere dafür, sehr bewusst auf einen reflektierten, ethisch verantworteten Lernweg zu gehen – auch in Kirche und Sozialer Arbeit. Wir müssen neue Wege gehen um in der Digitalisierung neue Chancen für Teilhabe zu erkennen. Wir haben uns in der Diakonie Mitteldeutschland intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt und am 30. Oktober die Hallesche Erklärung verabschiedet.

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„Schöne neue Arbeitswelt!?“ – Das war das Thema unseres Thementages im März. Wie wird sich die Arbeitswelt durch Digitalisierung verändern? „Der technische Fortschritt muss immer einem sozialen Fortschritt dienen,“ sagte Staatssekretärin Kerstin Griese.

Der Begriff „Lernweg“ zeigt, dass nicht jede Biegung und Weggabelung und schon gar nicht das Ziel bekannt sind. Es ist wichtig, gut informiert, nicht ängstlich, aber eben auch nicht leichtfertig diesen Lernweg zu gehen. Zudem ist wichtig: Digitalisierung wird teilweise wie ein „Heilsbringer“ angesehen, ja sogar wie eine Ersatzreligion, die Heil, Heilung und vor allem Glück verspricht.

Big-Data oder der scheinbar perfekte OP-Roboter werden weder Lebensglück garantieren, noch Unsterblichkeit herbeiführen. Auch Digitalisierung bewegt sich in der unerlösten Welt mit ihren offenen Lebens- und Menschheitsfragen. Die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf hebt auch die digitale Technik nicht auf. Es handelt sich um Technik, nicht weniger, aber vor allem auch nicht mehr. Es wird in eins und null programmiert. Und zwischen hilfreich und angenehm und Glück bringend und heilsam besteht weiterhin eine klare Trennung.

Schauen wir heute daher mit nüchternem Blick darauf, welche Möglichkeiten digitale Technik für Kirche und Diakonie bringt. Welche sind sinnvoll? Welche sind nicht verantwortbar? Wie kann Digitalisierung neue Teilhabechancen eröffnen? Es ist schwierig, zwischen hilfreich und nicht hilfreich zu unterscheiden. Die ethische Debatte dazu steht noch sehr am Anfang.

Immer mehr Sachverhalte werden digital erfasst in Wirtschaft und Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Es scheint so zu sein, dass alles messbar, erfassbar, speicherbar und anwendbar ist. „Big Data“ ist dafür das Stichwort.

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Ein Blick in die Zukunft – Kann die virtuelle Realität zu einem Ersatz für die Wirklichkeit werden? Ethische Fragen waren Teil unseres Mitarbeitendenworkshops im vergangenen Jahr.

Aber gibt es Bereiche der Schöpfung, die nicht digital erfassbar sind?
Kann ein Partnersuche-Portal „Liebe“ erfassen und abbilden? Bildet eine große Datensammlung über das Verhalten eines Menschen, gekoppelt mit seinen Vitaldaten, seine Person und individuelle Persönlichkeit ab? Wird nicht die Mehrdimensionalität der Schöpfung Gottes und die Tiefgründigkeit des Lebens auf das digital Erfassbare verkürzt? Wie soll digital erfasst werden, was theologisch die Wahrnehmbarkeit und Denkbarkeit des Menschen übersteigt?

Ich zitiere den Philosophen Martin Sell: „Die messbare Seite der Welt ist nicht die Welt, sondern die messbare Seite der Welt.“ Es besteht die Gefahr der Einführung eines deutlich verkürzten Menschenbildes, einer Kategorisierung und Typisierung von Menschen in einer Absolutheit, die der Schöpfung Gottes widerspricht. Und nicht nur dieses: Dem Leben werden Weite, Kreativität und Entwicklung genommen – Dimensionen, die Menschsein grundsätzlich ausmachen. Es geht immer nur um die messbare Welt, niemals um die Schöpfung Gottes.

Klassische Erkenntnisprozesse suchen eine Ursache für eine Wirkung oder für wahrnehmbare Phänomene. Auch erfolgreiche Wissenschaftler wissen um die Begrenztheit ihrer Erkenntnis und die Faszination neuer Forschungen.

Das Big-Data-Prinzip dagegen sucht Korrelationen und wertet diese aus. Ziel ist es, eine möglichst große Wahrscheinlichkeit zu erreichen. Und den Algorithmen liegt dann eine Rechenvorschrift zugrunde, in der Datenübereinstimmungen und kategorisierte Nutzerdaten bestimmten Informationen eine bestimmte Priorität zuweisen. Der Nutzerin oder dem Nutzer bleibt jedoch die Funktionsweise des Algorithmus unbekannt, der dazu führt, dass sie oder er zum Beispiel im Internet bestimmte Informationen und Produkte angezeigt bekommt. Es stellen sich daher Fragen nach der Manipulierbarkeit und der Aussagekraft bestimmter Ergebnisse. Und das korrelationale Prinzip ist nur bedingt dazu geeignet, individuelle Entscheidungen, Handlungen und Einstellungen mit Exaktheit wiederzugeben.

Zum Bespiel: Immer mehr Menschen suchen medizinischen Rat im Internet und nicht im persönlichen Arztgespräch. Sie vertrauen der digitalen Anamnese von Google und Co., die schnell und einfach verfügbar ist und dieses besonders in Ländern, in denen eine Krankenversicherung kein Allgemeingut ist.

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„Digitale Disruption – Bereit für die Zukunft?“ Das war das Thema unseres letzten Thementages im September. Die Digitalisierung lässt neue Geschäftsmodelle entstehen, andere etablierte Angebote verschwinden vom Markt. Welcher moralische Kompass sollte hier maßgebend sein?

Verantwortungsverlagerung vom Menschen zur Maschine
Entscheidungssituationen, in denen vorher ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen agierte, werden durch Maschinen gesteuert. Wer trägt dann die Verantwortung für das Ergebnis der OP durch den Computer? Wer trägt die Verantwortung für das Fehlverhalten des selbstfahrenden Autos?

Ist der Ersatz von Menschen durch Maschinen in Entscheidungsprozessen gesellschaftlich wünschenswert? Oder, sehr zugespitzt: Könnte die Digitalisierung der Medizin dazu führen, dass die Interaktion mit einem Arzt zu einem Privileg einer höherwertigen Krankenversicherung wird?

Wäre eine Seelsorge-App, die auf eine große Datenbasis zurückgreift, eine Unterstützung für die Pfarrerin oder den Pfarrer in einer kleiner werdenden Kirche mit einer großen geographischen Ausdehnung? Und wie gehen wir damit um, wenn irgendwer diese programmiert und zum Download anbietet?

Die Personalisierung von Online-Diensten
Im Handel werden immer mehr Angebote individualisiert. Nicht mehr Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis, sondern der individuelle Kunde. Vergangene Woche an der Tankstelle: Die freundliche Frau an der Kasse sagte dem Herrn vor mir: „Sie müssen immer vor 16.00 Uhr tanken, denn danach – wenn viele kommen – setzen wir den Preis hoch. Nach 21.00 Uhr ist es dann wieder billiger.“

Vielleicht sieht die Zukunft so aus: Ihr Fahrzeug wird bei der Einfahrt an der Tankstelle mit Fahrer oder Fahrerin gescannt. Da sie immer volltanken und bar bezahlen, erhalten sie einen günstigeren Benzinpreis. Aber der Fahrer nach ihnen, dessen Girokonto öfter überzogen ist, der dazu schon einmal arbeitslos war, der muss mehr zahlen, einen Risikoaufschlag. Ethisch stellt sich die Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Ist es gerecht, dass der eine diesen und der andere jenen Preis zahlt? Oder ist es gerecht, wenn alle den gleichen Preis zahlen, vielleicht sogar an allen Orten, z.B. wie bei der Buchpreisbindung? Was gilt in der vernetzten Welt noch als gerecht? Wie können wir eine soziale Teilhabe aller Menschen in der digitalen Welt erreichen?

Fazit: Wir sind auf dem Lernweg digitaler Technik
Wir haben die große Schwierigkeit, dass Digitalisierung weltumspannend ist, dass wenige globale Firmen schwer kontrollierbar agieren, aber gesellschaftliche Diskurse oder gar Regelungen national, bestenfalls EU-weit angewendet werden. Nicht nur die Diskurse müssen global werden, sondern auch die „Spielregeln“ der Digitalisierung, wenn das überhaupt realisierbar ist.

Diese vier Stichworte, die in keiner Weise eine abschließende Aufzählung darstellen, zeigen, dass wir uns auf einem Lernweg der Anwendung und des Umgangs mit digitaler Technik befinden. Sie zeigen zugleich die Notwendigkeit eines breiten gesellschaftlichen Diskurses auf, was gewollt bzw. akzeptiert wird und was eben auch nicht. Innerhalb der Diakonie Mitteldeutschland haben wir diesen Diskurs mit dem Fokus auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geführt. Daraus entstanden ist die Hallesche Erklärung.

Hintergrund: Die Diakonie Mitteldeutschland steht 2019 unter dem Jahresthema „#diakoniedigital – Veränderungen gestalten“ . Als größter Wohlfahrtsverband der ostdeutschen Bundesländer sehen wir uns in der spannenden Pflicht, die Digitalisierung der Gesellschaft im Sozial- und Gesundheitswesen konstruktiv und kritisch zu begleiten und die Diakonie in Mitteldeutschland zukunftssicher aufzustellen. Mit der Verabschiedung der Halleschen Erklärung auf unserer Mitgliederversammlung am 30. Oktober 2019 haben wir eine klare Stellung hierzu bezogen.

Oberkirchenrat Christoph Stolte
Vorstandsvorsitzender Diakonie Mitteldeutschland