Der Hotspot wird zur Falle

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Michaela Seitz
Referentin Migration und Flucht


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(19. Oktober 2018) ”Der Winter kommt!”, diesen Satz hören wir heute dreimal. Der Winter kommt! Das Mantra aus der TV Serie Game of Thrones verfolgt einen bis hierher, auf die Insel Chios in Griechenland. Und genau wie in der Serie gibt es auch hier eine Wand, unsichtbar, aber trotzdem überall. Sie verläuft irgendwo zwischen den östlichen ägäischen Inseln und dem türkischen Festland. Griechenland hat zusammen mit der Türkei die Aufgabe, Europa zu schützen. So jedenfalls sieht es der EU-Türkei-Deal vor. Doch schützen wovor eigentlich?

Nein, ganz und gar nicht. Wir sollen vor Familien geschützt werden, die das Meer nachts überqueren. Vor schwangeren Frauen. Vor jungen, allein reisenden Männern. Vor kleinen Mädchen, die sich in der kühlen Nachtluft an ihren Vater schmiegen. Vor Männern, die schützend ihre Arme um die Schultern ihrer Frauen legen. Vor Teenagern, die mit ihren älteren Brüdern kommen. Vor Flüchtlingen. Viele ertrinken auf dem Weg, andere erreichen die Küste von Chios und werden dann im Camp Vial untergebracht.

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Mit Booten wie diesen gelang vielen Menschen die gefährliche Flucht über das Mittelmeer. (Foto: Annegret Krellner)

Das Camp liegt in einem Olivenhain auf der Südostseite von Chios. ”Heute Morgen bin ich an den Strand gegangen, um zu schwimmen. Ich habe dort ein Boot entdeckt, das von Fluechtlingen zurückgelassen wurde. Es hat genauso ausgesehen wie auf den Fotos, die wir aus den Zeitungen kennen.“ Das erzählt eine Teilnehmerin von „Solidarity first - reclaiming the values and principles of Europe“, einer Konferenz zum Asylrecht, die eine Woche dauert, auf Chios beginnt und in Athen endet. Organisiert ist sie von Churches Commission for Migrants in Europe (CCME) und der Diakonie Deutschland

Chios ist eine von fünf Inseln, auf denen es einen sogenannten Hotspot gibt, ein Aufnahmezentrum für Flüchtlinge, das ursprünglich dazu dienen sollte, Neuankömmlinge an den EU-Außengrenzen zu identifizieren. Es gab die Idee, ein schnelles Verfahren zu etablieren, um den Schutzbedarf von Flüchtlingen festzustellen, Asyl sollte schnell gewährt oder abgelehnt werden. Im Fall einer positiven Entscheidung sollten die Flüchtlinge dann innerhalb der EU nach einem fairen Mechanismus verteilt werden. Im Fall einer negativen Entscheidung sollten Flüchtlinge umgehend in ihr Heimatland zurückgeschickt werden.

Nach dem EU-Türkei-Deal aus dem März 2016 aber sieht die Realität anders aus. Die Flüchtlinge sitzen auf den Inseln in der Falle: es gibt keine schnellen Verfahren, es gibt keine Umverteilung, es gibt keine angemessene Unterbringung. Das Hotspot-Konzept generell und die Bedingungen in den Camps werden heftig kritisiert. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat sich aus dem Hotspot-Camp Moria auf Lesbos sogar zurückgezogen, weil sie dieses humanitäre Disaster nicht länger mittragen will.

Als wir den Bus im Flüchtlingscamp Vial verlassen, kommen sofort zwei Polizisten auf uns zu, um herauszufinden, was unsere Gruppe dort macht. Unsere Begleiterin erklärt, dass wir nur zu Besuch sind. Sie lassen uns gewähren. Wir laufen zunächst an der Aussenseite des Camps entlang. Es ist mit Stacheldraht eingezäunt. Die Barracken, auch “Container” genannt, sind überbelegt. Der Gestank im Camp ist fürchterlich, es riecht nach Latrinen und Urin. Überall hängen Menschen herum, kleine Kinder spielen im Müll. Unsere Begleiterin berichtet, dass es schon einige Unruhen im Camp gegeben hat. Doch der Zaun wird immer wieder erneuert.

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Da das Lager zu klein ist, campieren viele Geflüchtete in Zelten. Die bieten für den bevorstehenden Winter kaum Schutz. (Foto: Ramin Mohabat)

Das Camp breitet sich auch weiter aus, sagt unsere Begleiterin. Sie zeigt dabei auf den Wald außerhalb des aufgebrochenen Zauns. Die Zelte stehen so eng bei einander, dass man sich fragt, wie Menschen hinein und herauskommen. Auf der Rückseite des Camps ist der Zaun völlig offen, Wachen und Polizei sperren nur den Haupteingang auf der Vorderseite des Camps.

In jeder der kleinen Plastikbarracken im Camp leben drei bis vier Familien. Das Camp ist für 1.100 Menschen geplant. Aktuell leben mindestens 2.500 Menschen hier. In den Barracken ist nicht genug Platz für alle, viele schlafen in Zelten. „Wo sollen wir schlafen, wenn der Winter kommt?“, fragt sich Farzana. Die Afghanin ist seit vier Monaten in Vial. Da ihr Englisch sehr gut ist, hilft sie im Camp oft zu übersetzen. Was sie in Zukunft gerne machen würde. „Ich will nach Luxemburg. Da kann man ein gutes Leben haben und ich will als Dolmetscherin arbeiten. Aber ich glaube nicht, dass ich hier rauskomme; sie sagen, dass ich immer nach Griechenland zurückmuss. Es ist wie eine Falle. Und wenn wir nach Athen gehen, dann enden wir dort in einem anderen Camp.“ Wie es im Camp ist? „Überhaupt nicht gut. Wir haben zu wenig Trinkwasser. Das Wasser hat oft so eine ölige Schicht und das Essen ist ungenießbar. Ich bin fast immer krank, meistens Durchfall und Bauchschmerzen.“

Farzana erzählt uns auch, dass es nicht erlaubt ist, im Camp Fotos zu machen. „Wenn die Polizisten das herausfinden, nehmen sie uns die Telefone weg. Ich weiß nicht warum, vielleicht wollen sie nicht, dass jemand erfährt, wie schlecht es im Camp ist.“ Abends sind keine Polizisten oder Wachleute im Camp. Mehr als 2.000 Menschen werden in beengten Verhältnissen ihrem Schicksal überlassen, Frauen sind dann besonders gefährdet.

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Das Camp ist durch Zäune und griechisches Sicherheitspersonal abgeriegelt. (Foto: Ramin Mohabat)

An diesem Oktobertag jedoch scheint die Sonne freundlich über dem Camp, zwischen den Olivenbäumen sitzen einige Frauen, Männer und kleine Kinder auf einer Decke. Kinder spielen mit einem grossen, roten Ball im trockenen Gras. Das jüngste ist barfuss.

Die Menschen wissen nicht, wie es weitergeht. Sie haben Angst vor Krankheiten, vor der Nacht, dem bevorstehenden Winter. Es fehlt an gutem Wasser und gesunder Nahrung, es fehlen Barracken. Im Camp hängen die Menschen völlig in der Luft. Es gibt kaum Informationen zum Ablauf des Verfahrens: Wie kann ich Hilfe bekommen? An wen muss ich mich wenden? Welche Verfahrensschritte folgen und welche Rechte habe ich? Wie sind meine Perspektiven, wenn ich Asyl bekommen habe?

Die Konferenz „Solidarity first - reclaiming the values and principles of Europe“ ruft die EU und die griechischen Behörden auf, sich ihrer Verantwortung zu stellen und im Hotspot-Camp auf Chios und den anderen griechischen Inseln wenigstens humanitäre Mindeststandards einzuhalten.

Text: Johanna Linder (Schweden), Michaela Seitz (Halle, Diakonie Mitteldeutschland)