Ein Spaziergespräch
Wer in Erfurt die mittelalterliche Altstadt besucht, läuft durch anmutig verwinkelte Gassen mit Kopfsteinpflaster und vorspringenden Fachwerkgiebeln. Man kann sich treiben lassen von Besucherströmen, der eigenen Neugier oder der Faszination der zahllosen Denkmäler – und sich dabei schnell im Gewirr der Gassen verlieren. Ortskundige, ein guter Stadtplan und Orientierungspunkte können helfen, den richtigen Weg zu finden.
Martina von Witten, Kaufmännische Vorständin der Diakonie Mitteldeutschland und Björn Starke, Geschäftsführer im Christophoruswerk Erfurt, nutzen einen Spaziergang durch die Erfurter Altstadt um sich über die Orientierungspunkte im „Dritten Weg“ auszutauschen. Gemeint ist damit das kirchliche Arbeitsrecht, das aus völlig eigenständigen Gesetzen und Regeln konstruiert ist. Der Dritte Weg unterscheidet sich vom „Ersten Weg“, mit dem die Arbeitsrechtssetzung durch einen Arbeitgeber beschrieben wird und dem „Zweiten Weg“, in dem Regelungen zum Arbeitsrecht und zu Tarifen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern vereinbart werden.
Im Dritten Weg wirken eigens dafür gewählte Personen aus Mitarbeitervertretungen in kirchlichen und kirchlich-sozialen Einrichtungen zusammen mit gewählten Leitungsverantwortlichen dieser Einrichtungen, um in paritätisch besetzen Kommissionen gemeinsam zu entscheiden, welche Entgelte Mitarbeitende erhalten sollen und wie bestehende Regelungen zum Arbeitsrecht verändert werden können. Eigenständige kirchliche Gesetze bilden die verbindliche Grundlage dafür.
Kontakt
Das Spaziergespräch durch die Erfurter Altstadt startet in der Allerheiligenstraße. Hier gibt es einen Werkstattladen des Christophoruswerkes, Beratungsräume und die Büros der Geschäftsleitung. Das Sozialunternehmen zählt zu den beliebtesten Arbeitgebern im Jahr 2024, erfährt der Besucher im Eingangsflur.

Martina von Witten und Björn Starke treffen sich vor dem Eingang. Die Spätsommersonne heizt die schwarzen Pflastersteine auf, die Luft ist warm. Durch die Waagegasse geht es Richtung Krämerbrücke. Man braucht auf diesem Pflaster feste Schuhe und man muss genau schauen, wo Senken und Bordsteine zur Stolpergefahr werden. Der Weg atmet Geschichte. Wahrscheinlich sind Menschen seit Jahrhunderten auf diesen Steinen unterwegs. Starke: „Wir hätten auch über den Fischmarkt gehen können.“ Von Witten: „Die eigenen Wege sind meist nicht gerade, manchmal unbekannt oder abenteuerlich. So ist das auch mit unserem Thema. Wenn das Ziel stimmt, kann ich unbequeme Momente überwinden.“

Die Krämerbrücke ist immer gut besucht. Touristen bestaunen die Architektur, die schon im Mittelalter ein Symbol für Verbindung und Freiheit war – vor allem für Handelsfreiheit. Von Witten: „Alt und solide und belastbar. Und wenn man in den Erhalt der Gebäude investiert, hat man nicht nur etwas für den Fortbestand getan, sondern auch für die Schönheit dieses Ortes. So viele Menschen haben Freude daran.“
Starke: „Hier wurde und wird ganz behutsam modernisiert, vor allem indem man versucht zu verstehen, was für die traditionelle Bauweise entscheidend ist, für den Erhalt der Substanz. Neubauten sollen die alte Substanz nicht überbieten. Jetzt haben wir hier ein Gesamtbild, in dem Menschen sich gern aufhalten und das Alte wertschätzen, ohne auf Neues zu verzichten. Dahinter steckt viel Planung und Erfahrung. So sehe ich auch unser kirchliches Arbeitsrecht. Wir bewahren das, was sich bewährt hat und prüfen sehr genau, welche Veränderungen in einer Gesamtschau der Sache guttun. Die, die planen und umbauen und die, die darin leben und arbeiten, beraten und entscheiden gemeinsam, was zu tun ist. Ein Statiker sieht andere Dinge als ein Mieter oder ein Café-Betreiber. Die verschiedenen Interessen lassen sich ausgleichen, wenn die Fakten und Ideen geprüft werden und jede Sichtweise Raum bekommt.“

Von Witten: „Damit sehe ich auch unsere traditionsreiche Diakonie in einem modernen Licht. Dass es unseren evangelischen Verband schon seit mehr als 175 Jahren gibt, heißt ja nicht, dass wir nur Geschichte wiederholen. Soziale Arbeit nah bei den Menschen bedeutet doch, Hilfebedürftige und Ratsuchende so gut und passgenau wie möglich zu unterstützen, gleichzeitig aber auch die Helfenden und betrieblichen Ressourcen so auszurüsten, dass wir die Arbeit dauerhaft gut machen können. Angemessene Bezahlung der Mitarbeitenden, Investitionen in Gebäude und Technik, Gestaltungsräume für die Zukunft, für neue Aufgaben – das gehört für mich alles mit in eine wirtschaftliche Kostenrechnung, die von einem sehr hohen Nutzen für die Menschen ausgehen muss.“
Starke: „Und in diese Verantwortung stellt unser kirchliches System aus Mitbestimmung und Konsens sowohl mich als Geschäftsführer, als auch die gewählte Mitarbeitervertretung in eine gemeinsame Leitung. Unsere kirchengesetzlichen Vorgaben zur Wahl einer Mitarbeitervertretung, zur Mitbestimmung in den Einrichtungen und im Arbeitsrecht sind herausragend. Deshalb nehme ich den Begriff Dienstgemeinschaft auch ernst und der schließt für mich alle ein, die an den Aufgaben im Dienst am Menschen mitarbeiten.“

Unter der Krämerbrücke fließt die Gera. Rund um die Brücke haben viele alte Häuser eine kleine Terrasse über dem flachen Fluss oder einen Steg – kleine Wohlfühloasen mitten in der Stadt. Heimat ist Verbundensein mit Orten und Menschen, mit Erinnerungen und Erwartungen. Die Gera ist ein kleiner Fluss, ruhig und sanft durchzieht er die Stadt. Hier an der Krämerbrücke wird die Gera „Breitstrom“ genannt. Alles fließt, alles verändert sich, kein Teilchen verharrt. Trotzdem ist der Fluss immer da, in Bewegung und Beständigkeit. Mühlen nutzten früher seine Energie. Angler loben die Reinheit des Wassers und werfen die Fliegenköder nach Bachforellen aus.
Von Witten: „Müssen wir uns den Vorwurf gefallen lassen, zu keinen Veränderungen bereit zu sein? Müssen wir uns die Frage gefallen lassen, ob unsere Arbeitsrechtssetzung unmodern ist?“ Starke: „Die Frage kann man sich ja gefallen lassen. Ich meine aber, wir haben ein hochmodernes Arbeitsrecht mit einer hohen Beteiligung und einer ganz basisdemokratischen Ausrichtung. Wir reagieren auf Veränderungen durch Anpassungen im Arbeitsrecht. Es gibt Lohnsteigerungen, mehr Urlaub, verringerte Arbeitszeit und neue Arbeitszeitmodelle.“

Von Witten: „Die Gewerkschaftslogik von Arbeitskampf und Streiks geht zurück auf eine Logik des 19. Jahrhunderts – Arbeit gegen Kapital. Niemand in der Diakonie kann selbstherrlich entscheiden, ob Geld in private Taschen, in Prestigeobjekte oder an die Mitarbeitenden fließt. Gesetze und Verordnungen, Förderbedingungen und auch die hohen Vorgaben der Mitbestimmung leiten jeden Euro in der Diakonie in eine Gemeinschaftskasse. Aus dieser Gemeinwohlorientierung beziehen wir auch Kraft und Motivation. Deshalb gibt es so viele Menschen, die durch ehrenamtlichen Einsatz oder durch Spenden unsere Arbeit verstärken.“
Starke: „Über neunzig Prozent der Diakonieeinrichtungen haben eine Mitarbeitervertretung, entsprechend der kirchengesetzlichen Vorgaben. Da können viele Beschäftigte in anderen Branchen nur von träumen. Die Mitarbeitervertretung ist mit ihren Rechten und Pflichten de facto Teil der Leitung. Konsens und die gemeinsame Verantwortung im Dienst am Menschen kann ich doch nicht im Kampf gegeneinander in Frage stellen. Und am Ende schaden wir damit den Menschen, die auf Unterstützung durch uns angewiesen sind.

Von der Krämerbrücke zum Augustinerkloster sind es keine 500 Meter zu Fuß. Das Kloster ist weltweit bekannt, weil Martin Luther hier etwa sechs Jahre als Mönch lebte und Theologie studierte. Das Augustinerkloster ist heute ein Symbol der Reformation. Luther wurde in seinem Suchen und Studieren auch von den Gedanken der Renaissance und des Humanismus beeinflusst, darin, wie er Gott, den Menschen und die Welt sah. Der Geist dieser Zeit rückt den einzelnen Menschen stärker in den Mittelpunkt. Für Luther gilt: der Mensch ist frei und doch abhängig von Gott; nicht durch Äußeres sondern allein durch Gott gerechtfertigt und erlöst.“
Starke: „Daraus folgt eine Verantwortung für mich und für andere, aus der ich nicht entlassen werden kann, der ich mich nicht entziehen kann. In Luthers Betrachtung sind alle Menschen einfache Kinder Gottes und zugleich auch Priester. Die Oberen und die Unteren sind Diener in verschiedenen Rollen, aber mit gleichem Auftrag für die Welt, mit gleichem Ziel. Für mich ist das eine wichtige Grundlage für unser heutiges Bild der Dienstgemeinschaft.“

Nächste Station: Domplatz. Eine freie Innenstadtfläche in beeindruckend großem Ausmaß, von schönen Fachwerkhäusern gerahmte Weite. Hier gibt es Märkte, Konzerte und Events, hier trifft man sich. Dom und St. Severi-Kirche sind deutlich erhöht und als Ensemble das Wahrzeichen der Stadt. Von Witten: „Ein gutes Bild für unseren Rahmen. Es gibt Gestaltungsraum, aber auch Grenzen. Was für ein Markt ist der Sozialmarkt? Die Marktregeln sind in der staatlichen Sozialgesetzgebung verbrieft. Diakonische Einrichtungen kommen nur ganz selten in einen direkt bezahlten Austausch von Angebot und Nachfrage mit denen, die soziale Dienstleistungen nutzen. Die staatliche Sozialverwaltung und die Sozialkassen entscheiden maßgeblich darüber, wer welche Form der Hilfe bekommt und geben den Preis dafür vor. Wir können deshalb nur so viel gestalten, wie uns Sozialkassen, öffentliche Haushalte und private Anteile zum Beispiel bei Pflegebedürftigen in der Finanzierung unserer Arbeit den nötigen Spielraum geben.“
Starke: „Eine Symbolik dieses schönen Platzes passt für mich nicht so gut ins Bild. Im Mittelalter stand die Kirche über den Menschen, ihre Größe sollte hinweisen auf die Größe Gottes. Doch die christliche Botschaft enthielt ja von Beginn an den Verweis auf die Nähe zu Gott, die innerliche und ganz persönliche Verbindung. Der Dienst am Menschen ist für uns Dienst im Namen Gottes und an seinem Ebenbild. Kirche und Glauben findet nicht nur in erhöhten sakralen Räumen statt. Dieser Dienst findet eben gerade in unseren Räumen statt. Das lässt sich heute schwer erklären. Aber wir dürfen uns nicht von außen bestimmen lassen, wann unser Dienst aus dem Glauben kommt und welche Verrichtung mit Kirche nichts zu tun hat. Für uns ist jeder Dienst am Menschen immer auch ein Auftrag im Glauben.“