Gedanken zur Jahreslosung 2023
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“
1. Mose 16,13
„Immer mehr Menschen in Deutschland fühlen sich einsam – gerade zu Weihnachten“, meldete die Tagesschau am 24. Dezember online. „Bei der Telefonseelsorge drehte sich jeder vierte Anruf um das Gefühl das Alleinseins.“ Wer sich einsam fühlt, der wird oftmals von anderen Menschen übersehen, auch mitten in einer dicht bevölkerten Stadt. Einen Menschen übersehen ist das Gegenteil von ansehen, von bewusst wahrnehmen, eine Verbindung herstellen, Resonanz geben. Wer sich als nicht angesehen und persönlich wahrgenommen erlebt, den kann das Gefühl der Einsamkeit beschleichen. Es ist ein bedrückendes, dunkles und Kraft raubendes Gefühl.
Im ersten Buch Mose Kapitel 16 Kapitel 21 begegnet uns Hagar, die ägyptische Magd von Sara, der Frau Abrahams. Es sind zwei kurze biblische Episoden, die sich um ungewollte Kinderlosigkeit, um eine gewollte „Dreiecksbeziehung“ und um eine angestrebte Adoption drehen.
Es ist eine für alle Beteiligten traurige Erzählung von enttäuschter Hoffnung, dem Versuch einer Konfliktlösung, Flucht, Not, Rückkehr und Verzweiflung. Vor allem ist es eine biblische Erzählung von Hagar, einer Magd, einer nicht angesehenen Frau, die zweimal fliehen muss und keinen Ausweg für ihr Leben mehr sehen kann. In ihrer Not erfährt sie, dass Gott sie eben nicht über- sondern ansieht. Gott sieht sie an und verleiht ihr Ansehen. Gott nimmt sie in ihrer unverlierbaren Würde wahr. „Du sieht mich!“ ist die Erkenntnis Hagars in existentieller Not. Und dieses Ansehen eröffnet ihr einen Weg zurück ins Leben.
Gott hat Hagar gesehen, er hat sie nicht übersehen, er hat nicht weggeschaut, sondern er hat ganz genau hingesehen auf ihre Not und ihre Einsamkeit. Gott sieht Dich an, ist die Botschaft, die uns im Jahr 2023 in besonderer Weise begleiten und ermutigen will. Gott sieht Dich an, gerade in den Momenten des Lebens, in denen Du dich als ungesehen, als nicht angesehen, als einsam erlebst. Gott sieht dich an, auch in den Stunden, in denen dir dieser Gedanke so fremd ist.
Für uns Christinnen und Christen ist die Jahreslosung ein Auftrag: Sieh genau hin! Stelle Dich der Not der Menschen, gerade der verborgenen Not, der Armut und der Einsamkeit mitten in unserem reichen Land. Armut, Not und Einsamkeit sind keine sachlichen Zustände, sondern haben jeweils ein Gesicht, einen Namen, werden von nicht angesehenen Menschen schmerzhaft erlebt.
Bei allen Herausforderungen, die sich um neue gesetzliche Regelungen, Teuerungsraten und Finanzierungen drehen, ist unser Auftrag als Diakonie zuerst, jeden einzelnen Menschen zu sehen, ihn anzusehen und ihn seine Würde bewusst werden zu lassen. Unser Auftrag ist gelingende Begegnung auf Augenhöhe, damit sich Menschen als wahrgenommen und gewürdigt erleben, von Gott und den Menschen zugleich. An diesem Auftrag gilt es unser tägliches Handeln und alle Konzeptionen, Leistungsverzeichnisse und Qualitätsstandards auszurichten. Hagar erfährt einen Weg in die Zukunft und damit zurück ins Leben. Würdevoll und angesehen.
Oberkirchenrat Christoph Stolte