Shiba & Tooba - Die Geschichte zweier Afghaninnen in Bernburg

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Antje Roloff
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(29. November 2022) Wer will widersprechen, wenn wir sagen „Familien gehören zusammen“? Vielleicht das Leben, die Umstände, ein Streit, manchmal die Arbeit – so erleben wir das in unserem Alltag. Bei Tooba Siddigi waren es Krieg, Folter, Lebensgefahr und Angst, die der schlichten Vorstellung, dass Familien zusammengehören, widersprechen. Und es waren maßgeblich die Taliban, die ihr fast alle Hoffnung raubten, dass sie ihre Eltern und ihre acht Geschwister wiedersehen wird. Tooba, eine 14 Jahre alte Afghanin, die nie erlebt hat, wie sich Frieden anfühlt.

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Die Schwestern Tooba (14) und Shiba (16) teilen den gleichen Traum: Sie wollen Ärztinnen werden. Nach der Machtübernahme der Taliban sind Schulbesuch und Studium für Frauen in Afghanistan leider unmöglich geworden. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

23 Jahre hat Khwaja Yusuf Siddigi, Toobas Vater, für die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit und ihre Nachfolgeorganisation gearbeitet, der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GiZ). Grund genug für die Taliban, Khwaja Siddigi 2021 zu verhaften, ihn zu verhören und zu schlagen. „Ich hatte Angst um mein Leben und um meine Familie.“ Auf dem Handy hat er Bilder von seinen Verletzungen. Hämatome überziehen den ganzen Rücken.

Die Taliban nehmen am 15. August 2021 Kabul ein, Khwaja Siddigi versteckt sich eine Woche lang zu Hause. Als er zum ersten Mal wieder das Haus verlässt, verhaften ihn die Taliban. Nachbarn hatten ihn verraten. Toobas zwei Jahre ältere Schwester Shiba berichtet, dass die Mutter Saleha und die Kinder anfangs gar nicht wissen, was mit dem Vater geschehen ist. Shiba Siddigi: „Ein Kollege meines Vaters hat uns erzählt, dass die Taliban ihn verhaftet haben. Wir hatten große Angst.“

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Khwaja Siddigi hat viele Jahre für deutsche Entwicklungsorganisationen gearbeitet. Dafür wurde er von den Taliban verhaftet und gefoltert. Für seine Familie wünscht er sich eine Zukunft ohne Gewalt. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Wir sitzen in einem Beratungsraum der Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis in Bernburg. Unser Gespräch wird übersetzt durch Effat Haidari. Sie kommt selbst aus Afghanistan, lebt schon ein paar Jahre in Schönebeck und arbeitet in der Pflege.

Khwaja Siddigi fällt es offenbar schwer, über seine Erlebnisse im Taliban-Gefängnis zu sprechen. Er hat bei seiner Verhaftung noch Arbeitspapiere der GiZ in der Tasche. Er fürchtet, dass er getötet wird, wenn seine Peiniger die Beweise finden. Und was geschieht, wenn die Taliban die Nachbarn verhören? Wenn sie die Papiere in die Hand bekommen? Khwaja Yusuf Siddigi will raus, muss raus aus Afghanistan.

Familie Siddigi hat es geschafft vor den Taliban zu fliehen. Das war im März 2022. Für eine große Familie, die Kinder zwischen 4 und 18 Jahre alt, ist es schwer, den schnellen Aufbruch zu organisieren. Kurz vor der Abreise dann der Schock. Tooba hat Probleme mit der Atmung. Es ist unklar, ob das Corona-Virus in ihrem Körper noch aktiv ist. Das Ausreise-Visum der Familie gilt nur zehn Tage. Wird Tooba in dieser Zeit gesund? Das Mädchen wird am Flughafen abgewiesen. Die Eltern treffen eine schwere Entscheidung: Tooba muss zurückbleiben, soll später nachkommen.

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Die Familie Siddigi musste ihr altes Leben in Afghanistan aufgeben – um es zu behalten. In Staßfurt bauen sie sich ein neues Leben auf. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Für Tooba beginnt eine schwere Zeit des Bangens und der Ungewissheit. Sie kann bei der Großmutter leben. Die Taliban verbieten Mädchen den Schulbesuch. Frauen dürfen nicht arbeiten, dürfen ohne männliche Begleitung nicht auf die Straße gehen. Hilfe bekommt sie auch von der älteren Schwester, die bis heute mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in Afghanistan lebt. Früher wurde die kleine Familie auch von Vater Khwaja unterstützt. Heute sind sie ohne feste Arbeit auf sich allein gestellt.

Während die Siddigis nach Monaten in der Asylaufnahme und in zwei Zimmern im Übergangswohnheim eine Sieben-Raum-Wohnung in Staßfurt beziehen können, wartet Tooba in Kabul auf neue Papiere. Während ihre kleinen Geschwister eine Kita besuchen, plant Tooba mit einer befreundeten Familie die heimliche Fahrt nach Pakistan, um von dort nach Deutschland zu fliegen. Ein halbes Jahr vergeht, die Großmutter stirbt. Tooba ist noch einsamer. Das Telefon schafft Verbindung, es wird viel geweint, getröstet, gemeinsam gehofft.

Shiba hat inzwischen schnell gelernt, Deutsch zu verstehen und erste Sätze zu sprechen. Sie will bald das Abitur machen und danach Medizin studieren.

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Juliane Stingl ist Migrationsberaterin der Evangelischen Stiftung St. Johannis in Bernburg. Sie unterstützt Familien dabei, in der Region Fuß zu fassen (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Hilfe bekommt die Familie von der Stiftung Evangelische Jugendhilfe St. Johannis in Bernburg. Juliane Stingl begleitet Familie Sidiggi beim Ankommen und bei der Integration. Meldebescheinigungen besorgen, lange Telefonate mit dem Jobcenter, Wohnungssuche, Briefwechsel mit dem Landesschulamt. Termine für die ärztliche Schultauglichkeitsuntersuchung sind schwer zu bekommen, ebenso wie die begehrten Plätze in einem Sprachkurs.

Tooba ist nach Hause gekommen. Heimat ist jetzt nur noch dort, wo ihre Familie ist. Ende Oktober landete ihr Flieger in Deutschland, der Plan ging auf. Unsere Hilfsaktion „Familien gehören zusammen“ hat einen Teil der Kosten für Visum und Flug übernommen. Tooba spricht nicht viel. So vieles ist neu, die lange Trennung hat ihr zugesetzt.

Eine Zukunft in Afghanistan kann sich niemand in der Familie vorstellen – nicht die Eltern und nicht die fast erwachsenen Geschwister. „40 Jahre ging es Afghanistan nur schlecht,“ sagt Khwaja Siddigi, „und es gibt keine Aussicht, dass es irgendwann besser wird.“ Tooba möchte wie Shiba später Medizin studieren, ein schon lange gehegter Wunsch. Der Vater schaut Tooba an und lächelt ein bisschen verlegen. Er hat heute nichts, womit er selbst seine Familie unterstützen kann. Aber sie haben sich als Familie. Und die Hoffnung auf eine friedvolle gemeinsame Zukunft.