Soziale Hängematte? Fehlanzeige! Menschen im Bürgergeld berichten von der Realität

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Steffen Mikolajczyk
Referent Grundsatzfragen Sozialpolitik/ Sozialplanung

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(22. Dezember 2023) „Es ist viel zu niedrig!“ – „Es ist viel zu hoch!“ In den sozialen Medien und in der Presse kann man den Streit um das Bürgergeld verfolgen. Das Existenzminimum für Menschen ohne Arbeit, mit einer Erwerbseinschränkung oder mit geringer Entlohnung erregt die Gemüter in Deutschland. Es wird über die Rechte und Pflichten der Menschen gesprochen, die das Bürgergeld erhalten. Wer dabei kaum zu Wort kommt: Die Menschen, die im Bürgergeldbezug leben. Manche sind mutig und äußern sich auf X, ehemals Twitter, unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen. Doch die große Mehrheit schweigt – aus Angst vor Anfeindung und Diskriminierung. Wir konnten Menschen in Halle (Saale) und Mühlhausen (Thüringen) im Bürgergeldbezug für ein Gespräch gewinnen. In unserem Blog eröffnen sie einen neuen und seltenen Blick auf die Situation und die tatsächlichen Lebensumstände.

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René Kacza (59) hat einige Schicksalsschläge erleben müssen. Doch mit Mut und Sachverstand versteht er es, sein Leben zu meistern. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Am 1. Januar 2023 ist das Bürgergeld gestartet. Es löste das Arbeitslosengeld II ab – weithin bekannt als „Hartz IV“. Dieses wurde unter der rot-grünen Bundesregierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder 2005 eingeführt. Vieles sollte mit der Überführung in das Bürgergeld ab 2023 einfacher und gerechter werden. Die Situation für Menschen in der Grundsicherung sollte sich deutlich verbessern. Der Regelsatz für einen Erwachsenen beträgt derzeit 502 Euro. Kinder erhalten weniger. Menschen im gleichen Haushalt, die ebenfalls Bürgergeld beziehen, erhalten auch einen geringeren Satz. Kosten für die Wohnung, die Krankenkasse und Heizkosten werden vom Staat direkt bezahlt und nicht aus dem Regelsatz finanziert. Das Bürgergeld hat den Anspruch, das Existenzminimum für Menschen in Deutschland zu sichern. Wie wird die Höhe des Regelsatzes ermittelt? Dafür bedient sich der Gesetzgeber einer Referenzgruppe und schaut, wie hoch die durchschnittlichen Ausgaben dieser Referenzgruppe für einzelne Produkte und Dienstleistungen ist. Also zum Beispiel für Nahrungsmittel oder Handyverträge. Einige dieser Posten werden als nicht relevant wieder gestrichen. Dazu gehören zum Beispiel der Weihnachtsbaum und Speiseeis. Dinge, die zum Leben einer Familie dazugehören sollten. Der Rest wird als Grundlage für den Regelsatz zusammengefasst.

An diesem Vorgehen gibt es viel Kritik, da aus Sicht der Diakonie nicht der tatsächliche Bedarf abgebildet ist. Ob 502 Euro für den Bedarf ausreichen, zu viel oder zu wenig sind, darum wird gestritten. Das „Bürgergeld-Bingo“ der Diakonie Deutschland lädt zum Selbsttest ein. Wie die Situation in der Realität aussieht, haben wir Menschen in Sachsen-Anhalt und Thüringen gefragt.


„Das digitale Endgerät ist das A und O um auf der Straße zu überleben.“

René Kacza ist 59 Jahre alt. Den Randberliner, im strahlend weißen Hemd, treffen wir zum Gespräch in einem Halleschen Café. Seit Mai 2020 ist er im Leistungsbezug. Davor hatte René Kacza ein geregeltes Einkommen und ein Familienleben. Er arbeitete als selbstständiger Veranstaltungskaufmann, war in einer festen Beziehung, hat Kinder und wohnte im eigenen Haus. Mit Beginn der Coronakrise verlor er seinen Job, da die Veranstaltungsbranche als eine der ersten Branchen in Schieflage geriet. Nach 30 Jahren Beziehung trennte sich seine Lebenspartnerin von ihm. Da das Haus ihr allein gehört, verlor er mit der Trennung seine Unterkunft. Die Gerichtsvollzieherin kam und begleitete ihn vor die Tür. René Kacza hat viel Geld und Zeit in Haus und Hof investiert und sitzt jetzt auf einem Schuldenberg von 80.000 Euro. „Ich habe das ganze Haus finanziert – zehn Jahre lang.“, sagt René Kacza und man merkt, wie sehr ihn das belastet, wo er jetzt sprichwörtlich auf der Straße sitzt. Innerhalb kürzester Zeit stand er ohne Job, ohne Dach über dem Kopf und ohne soziales Netz da. „Corona hat mich dahin gebracht, wo ich heute bin.“, reflektiert René Kacza seine Situation. Der einzige Ankerpunkt: ein Bekannter in Halle (Saale), der ihm vorübergehend einen Platz auf dem Sofa anbot. So kam der Berliner in die Saalestadt. „Hätte ich den nicht gehabt, gäbe es mich heute nicht mehr […] Ich hätte mir den Weg zu einer Brücke gesucht und wäre gesprungen.“, beschreibt René Kacza die Verzweiflung, die er damals verspürte.

Nach der Zeit bei dem Bekannten rutschte er in die Obdachlosigkeit, schlief anfangs in seinem 25 Jahre alten Auto, später im Wohnungslosenheim. Doch davon hat sich René Kacza nicht unterkriegen lassen. In der Wärmestube der Halleschen Stadtmission fand er Hilfe. Er hat inzwischen wieder ein kleines Zimmer, auch wenn dieses in einem furchtbaren Zustand ist und er deswegen viele Scherereien mit dem Jobcenter und dem Vermieter hat. Jetzt kann er durch das Bürgergeld etwas Luft holen und sich Schritt für Schritt wieder ein selbstbestimmtes Leben aufbauen.

Einfach ist es nicht, erzählt er uns. Der gelernte DDR-Drucker und Anlagenfahrer hat schon vor der Wende in der IT gearbeitet und ist auch heute noch immer sehr digital unterwegs. Handy und Laptop sind seine ständigen Begleiter – und überlebensnotwendig. „Sie kommen heute ohne digitale Endgeräte nicht mehr vom Fleck. Das digitale Endgerät ist das A und O um auf der Straße zu überleben.“, berichtet er über die Bedeutung der digitalen Hilfsmittel. Anträge stellen, E-Mail-Verkehr mit dem Bürgeramt und sogar dem Sozialgericht – René Kacza hat alle Hände voll zu tun. Ohne Ortskenntnis und kostenfreie Angebote könnte er das gar nicht stemmen. Den Akku lädt er in der Bahnhofsmission, WLAN gibt es am Bahnhof umsonst. Das sind wichtige Angebote, denn viele Antragswege und auch Jobbewerbungen laufen rein digital. Gleichzeitig ist René Kacza gut vernetzt und engagiert. Er pflegt Kontakte mit Programmierern und Interessierten des sogenannten „Fediverse“, ein Netzwerk alternativer, unabhängiger und freier Social Media Plattformen, Webseiten und Blogging-Dienste, abseits von Google, Meta und co. Der engagierte 59-Jährige erstellt mit der Programmiersprache C++ selbst Software für Mikrocontroller und kleine Skripte, hat sogar sein Smartphone mit einem alternativen Betriebssystem neu eingerichtet. Er ist ein begeisterter Programmierer – und damit für den Arbeitsmarkt doch sehr interessant, oder nicht?

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Ständige Begleiter: Ohne Laptop und Handy geht René Kacza nicht aus dem Haus. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Welche Unterstützung erhält René Kacza vom Amt bei der Jobsuche? Wie hat sich die Umstellung von Hartz IV auf das Bürgergeld ausgezahlt? „Die Veränderung war eine Verschlechterung. […] Sie erreichen heute keinen Mitarbeiter mehr persönlich.“, beschreibt er seinen Frust. Die Ämter sind mit der Verwaltung überfordert. Der Einzelne gerät völlig aus dem Blick, sagt er weiter. Sein Bürgergeld kommt oft zu spät, nur teilweise oder gar nicht an. Mit Klagen vor dem Sozialgericht wird Kacza dann aktiv. Der ständige Kampf um die Sicherung des Existenzminimums fordert Kraft und Zeit, die er besser investieren könnte. Zum Beispiel in die Jobsuche. Auch an dieser Stelle fühlt sich René Kacza im Stich gelassen. Beraterinnen und Berater wechseln ständig, sind in seinen Fall nicht eingearbeitet und unterstützen ihn bei der Suche nur unzureichend. Im Gegenteil: auf die Anerkennung einer gesetzlichen Krankenversicherung, die vom Jobcenter bearbeitet werden muss, hat er mehrere Monate gewartet. Notwendige Zahnbehandlungen und Zahnersatz bleiben Wunschdenken. Ohne Krankenversicherung ist eine Einstellung in einen neuen Job nicht möglich. Als selbstständiger Veranstaltungskaufmann hatte er vor dem Jobverlust eine private Krankenversicherung. „Sie fliegen dann irgendwann raus und haben einfach keine Krankenversicherung mehr.“, beschreibt René Kacza den Lauf der Dinge mit Beginn der Arbeitslosigkeit. An dieser Stelle springt normalerweise das Jobcenter ein und organisiert die Überführung in eine gesetzliche Krankenkasse.

Neben diesen bürokratischen Hürden hatte er mit Diskriminierung zu kämpfen. Arbeitgeber schrecken vor der Einstellung von Menschen aus dem Wohnungslosenheim zurück – Qualifizierung und Fähigkeiten hin oder her. „Also mit der Adresse … Kommen Sie wieder, wenn Sie eine eigene Wohnung haben.“, beschrieb René Kacza von den ausgrenzenden Erfahrungen, die er im Gespräch mit potentiellen Arbeitgebern machen musste. Sogar die Plasmaspende, die für viele Menschen eine gute Quelle für Nebeneinkünfte ist, war mit seiner Meldeadresse für ihn nicht möglich.

Gleichzeitig versucht er seinen Lebensunterhalt zu sichern. René Kacza beschreibt sich selbst als sehr reinlich. Hygieneartikel- und Pflegeprodukte sind ihm für ein gepflegtes Äußeres wichtig. Er trinkt keinen Alkohol, raucht nicht, konsumiert keine Drogen. Auch wenn er ein Auto besitzt – und gerade so halten kann – geht er viel zu Fuß oder nutzt das 49-Euro-Ticket. Für die Ernährung sind im Bürgergeldregelsatz 175 Euro vorgesehen. Das sind etwas mehr als fünf Euro für einen kompletten Tag. Drei gesunde Mahlzeiten sind bei den aktuellen Lebensmittelpreisen da nur schwer möglich. Zur Deckung seines Pflege- und Lebensmittelbedarfes nutzt er Angebote der Diakonie und der Caritas. Die Einkaufspreise und Preisentwicklungen hat René Kacza für die Produkte, die er konsumiert, genau im Blick. Er weiß was möglich ist – und was nicht. „Das Mittagessen bei der Caritas kostet zwei Euro pro Tag. Da haben Sie noch drei Euro. Davon machen Sie mal Frühstück und Abendbrot. Es ist unmöglich.“ Durch Preissteigerungen kann er sich nicht einmal mehr die Schokokekse aus dem Discounter leisten, die er besonders mag. Das nahende Weihnachtsfest ist da ein Lichtblick. „Weihnachten ist einfach die Zeit, wo sie weniger zu Essen brauchen“, sagt er. Denn dann erfahren viele Hilfseinrichtungen der Stadt mehr Unterstützung, es gibt Sponsorenessen von Firmen und Parteien und es gibt zusätzliche Spenden, die auch René Kacza zugutekommen. Hoffentlich sind darin auch Schokokekse enthalten.

René Kacza gehört zu den Engagierten und zu denen, die sich mit Gesetzen und Hilfsmöglichkeiten gut auskennen. Viele Menschen kennen ihre Rechte und unterstützende Angebote nicht und bleiben so auf der Strecke. Einige Menschen haben auch Scham, Hilfe in Anspruch zu nehmen oder trauen sich nicht auf Missstände und Ungerechtigkeiten hinzuweisen – ganz anders René Kacza, der sich auch gegenüber Verantwortlichen der Lokalpolitik klar äußert. „Ich war wahrscheinlich der erste Obdachlose, der beim Stadtrat gesprochen hat.“, sagt er mit einer Spur Stolz und auch Trotz, als er zurückdenkt an die Schilderung der Situation in der Notunterkunft für Obdachlose und an die Reaktion der Stadtratsabgeordneten. „Ich kann Ihnen sagen, die Gesichter … Ich werde die Gesichter nicht vergessen.“

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Hartnäckigkeit zeichnet die gebürtigen Berliner aus. Er weiß seinen Standpunkt gegenüber Ämtern und Gerichten genauso zu vertreten, wie gegenüber Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Verwaltung (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Sein Blick geht jetzt nach vorn in die Zukunft. Wenn er sich etwas wünschen dürfte? „Dann kommt jetzt die gute Fee, macht ein großes kommunales Gebäude auf und stellt mindestens fünfzig Sozialarbeiter an, die die Leute aufnehmen, an die Hand nehmen und verteilen.“ Abgesehen von der mangelhaften Betreuung und Unterstützung beklagt er, dass der Abschluss von Verträgen oft an ein Konto gebunden ist. Außerdem haben viele Menschen auf der Straße keine EC-Karte und dadurch Probleme, das Ihnen zur Verfügung stehende Geld bedarfsgerecht einsetzen zu können. Das 49-Euro-Ticket, Handyverträge und andere Verträge können so schwer oder gar nicht bezahlt werden. Eine Abwicklung – im Rahmen des Regelsatzes – über das Jobcenter würde für viele Menschen mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Sie wären so mobil und erreichbar und könnten ihre Chancen am Arbeitsmarkt verbessern.


Drei Köpfe – 900 Euro

Eine ganz andere Lebenswelt erfahren wir bei Monique (38 Jahre) und Christian Adler (46 Jahre). Das Ehepaar empfängt uns kurz nach dem Umzug in der neuen Mühlhäuser Wohnung. Das Paar ist seit fünfzehn Jahren verheiratet und hat fünf Kinder im Alter von sechzehn, vierzehn, elf, neun und drei Jahren. Beide Eltern sind im Bürgergeldbezug. Mutter Monique begann eine Ausbildung zur Hotelfachfrau, hat diese aber nicht abgeschlossen. Seitdem konzentrierte sie sich vor allem auf die Erziehung der Kinder. Vier der Kinder leben nicht mehr in dem Haushalt, sondern sind in einem Heim und in einer Pflegefamilie untergebracht. Das Ehepaar erlebt eine schwere Zeit. Häusliche Probleme haben zum Entzug des Sorgerechts geführt. Der Vater, ein gelernter Schreiner, wurde straffällig und konnte die Geldbuße des Gerichts nicht bezahlen. Er leistet deswegen gerade Sozialstunden als Ersatzleistung ab.

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Das Ehepaar Adler hat mit einigen Herausforderungen zu kämpfen. Doch von Resignation fehlt jede Spur. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Mit vier Personen weniger im Haushalt war die Wohnung für die Familie im Bürgergeldbezug zu groß. Die Adlers mussten umziehen. Vorher haben Sie die Miete, die über dem Anspruch lag, aus ihrem Regelsatz selbst zahlen müssen. So blieben den beiden zusammen ein Jahr lang nur 40 Euro im Monat zum Leben übrig. Doch sie resignieren nicht. Die Familie nimmt ihr Schicksal an und spricht offen und ehrlich über Probleme und Fehler der Vergangenheit. Die häuslichen Konflikte wurden beigelegt. Die Eltern versuchen zu allen Kindern einen engen Kontakt zu halten und das Sorgerecht zurück zu erhalten. Besonders Vater Christian ist hoffnungsvoll. Er leistet seine Sozialstunden im Hausmeisterdienst der Kommune ab, täglich sechs bis sieben Stunden. Seine große Hoffnung ist, im Anschluss eine richtige Anstellung bei der Kommune zu erhalten. Die Arbeit im Hausmeisterdienst macht ihm Spaß. Jeden Tag macht er sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad auf den Weg zur Arbeit, denn ein Auto besitzt die Familie nicht.

Die Familie hat zu dritt im Haushalt gemeinsam ein Budget von 900 Euro im Monat zur Verfügung, von dem Sie die wichtigsten Dinge des Alltags bezahlen müssen. Dazu gehören Strom, Handyverträge und Lebensmittel. Das Ehepaar Adler bezahlt davon auch die Darlehen, die sie für den Kauf von Kühlschrank, Waschmaschine und für die Wohnungskaution aufnehmen mussten. „Die Lebensmittelpreise haben Auswirkungen. Es ist ganz phänomenal, wie die nach oben schießen zurzeit.“, sagt Christian Adler. Die drei Personen haben nach Abzug aller Kosten ein freies Budget von 300 Euro zur Verfügung, mit dem sie ihre Einkäufe machen.

Zweimal in der Woche geht Familie Adler zur Tafel. 17 Euro zahlen sie dort pro Woche für ihren Einkauf. Vieles stellen sie selbst her, zum Beispiel Nudeln und Marmelade. Mit steigenden Lebensmittelpreisen hat sich die Ernährung der Familie geändert. Fleisch kommt seltener auf den Tisch, frisches Gemüse nur, wenn es in der Tafel verfügbar ist. Fisch, den sich die Familie früher einmal im Monat auf den Tisch geholt hat, gibt es auch nicht mehr. Der Andrang in der Mühlhäuser Tafel ist groß. Besonders Brot und andere Backwaren sind da schnell vergriffen. In Restaurants geht die Familie gar nicht mehr, Essen vom Lieferservice gibt es nur an Geburtstagen der Kinder – dafür fällt dann das Essen am kommenden Wochenende einfacher und fleischlos aus. Die Familie spart gerade für einen neuen Herd, den sie über die Möbelbörse beziehen will. Ein Herd aus dem normalen Kaufhaus ist für die Familie gar nicht denkbar. „Dann hätten wir zwar für 500 Euro einen neuen Herd – aber einen Monat lang nichts, was wir dort reintun können.“, beschreibt Christian Adler mit seinem trockenen Humor die finanziellen Möglichkeiten und Einschränkungen. Größere und teurere Anschaffungen müssen Familien im Bürgergeldbezug teilweise über Jahre hinweg aus ihrem Regelsatz abbezahlen.

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Christian Adler (46) leistet gerade Sozialstunden bei der Kommune. Er hofft auf eine Festanstellung, da er Freude an der Arbeit im Hausmeisterdienst hat. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Doch die Familie ist zuversichtlich und weiß Hilfsangebote in der Stadt gut zu nutzen. Ein ehrenamtlicher Verein ist für Mutter Monique eine wichtige Anlaufstelle. Der dortige „Frauenkreis“ bietet ihr wichtige soziale Kontakte. Auch Unterstützung beim Schreiben von Bewerbungen erhält sie dort kostenfrei. „Wer das nicht nutzt, ist selber schuld.“, sagt uns das Ehepaar. Monique Adler hat aktuell eine freie Stelle in der Gebäudereinigung in einem Krankenhaus im Blick. „Die Bewerbung schreibe ich dann auch da in meinem Projekt.“, sagt Monique Adler mit Verweis auf den Hilfeverein.

Mit der Unterstützung durch das Jobcenter hat die Familie gute Erfahrungen gemacht. Beide haben feste Ansprechpersonen – jeweils eine für die Leistungen und eine für die Arbeitsvermittlung. „Die wissen eigentlich Bescheid und lesen sich dann nur kurz ein in die Fälle“, beschreibt Christian Adler seine Erfahrung mit den Besuchen beim Jobcenter. Dennoch werden immer wieder auch Jobangebote vermittelt, für die das Ehepaar nicht die Voraussetzungen mitbringt oder die sehr weit entfernt sind.

Das Familienleben hat einen hohen Stellenwert für das Ehepaar Adler. Das hat sich durch das verlorene Sorgerecht nicht geändert. Sie dürfen drei der Kinder, die nicht im Haushalt leben, nur einmal im Monat für zwei Stunden unter Aufsicht sehen. Dann verbringt die Familie die Zeit gemeinsam in der Natur, auf dem Spielplatz oder im Wald. Sie essen gemeinsam – Fischstäbchen und Kartoffelbrei mögen die Kinder sehr gern. Gelegentlich ist auch Eisessen möglich. Der Besuch des Rummelplatzes ist für die Familie jedoch nicht finanzierbar – bei fünf Kindern kann so ein Nachmittag sogar am Familientag 150 Euro kosten. Doch klagen hört man das Ehepaar kaum. Sie wissen Hilfsangebote zu schätzen und sind für Unterstützung dankbar. Die Kleider- und Möbelbörse der Caritas sichert vieles Wichtige im Hausstand, die Tafel der Diakonie große Teile der Lebensmittelversorgung. Über Anträge im Rahmen des Bildungs- und Teilhabegesetzes erhalten sie Unterstützung bei der Finanzierung der Kosten für den Sportverein, für Klassenfahrten und Schulausflüge. Mit dem Antragsverfahren haben sie gute Erfahrungen gemacht und sind sehr zufrieden. „Das ist wirklich sehr einfach.“, sagt Monique Adler dazu sichtlich erfreut.

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Für Monique Adler (38) steht die Familie an erster Stelle. Sie arbeitet gerade daran, das Sorgerecht für ihre Kinder wiederzubekommen. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Der Blick der Familie Adler geht jetzt in die Zukunft. „Lieber mit Optimismus in den Tag gestartet, ins weitere Leben, als nur rummurren. Davon bewegt man auch nichts. Es braucht viel Eigeninitiative, sonst mauert man sich ein.“ Christian Adler findet klare Worte dazu, wer an der aktuellen Situation etwas ändern kann. Einziger Wermutstropfen: Es besteht keine Möglichkeit zu sparen. Beide Eltern besitzen keinen Führerschein und kein Auto. Der 16-jährige Sohn ist gerade in einem Berufsvorbereitungsjahr und würde danach gern ein Handwerk erlernen. Begleitend dazu will er den Führerschein machen – auch damit sich seine Chancen am Arbeitsmarkt verbessern. Doch seine Eltern können ihn dabei finanziell nicht unterstützen. Rücklagen auf Sparbüchern werden voll auf das Bürgergeld angerechnet. „Man hält den Bürger am Existenzminimum. Man kann sich nichts beiseitelegen, man kann keine Sparbücher anlegen. Die werden dann gleich mit eingerechnet.“ Hier würde sich die Familie eine Gesetzesänderung wünschen, damit zweckgebundene Rücklagen für die Kinder möglich werden und Armut nicht in direkter Linie weitervererbt wird. Was sie sich noch für die Zukunft wünschen? „ … dass das mit der Jobübernahme klappt, dass die Kinder wiederkommen.“


Regionale Unterschiede – viel Eigeninitiative

Die Situationen von René Kacza und der Familie Adler zeigen einen kleinen Ausschnitt der persönlichen Schicksale, mit denen Menschen im Bürgergeldbezug leben müssen. Oft sind es komplexe und unterschiedliche Probleme, die die Lage verschärfen: plötzlich arbeitslos, Suchtprobleme, häusliche Probleme, Straffälligkeit, oft aber auch einfach nur das alleinige Erziehen eines Kindes, der Tod der Partnerin oder des Partners, finanzielle Probleme. Das Bild des „faulen Arbeitslosen“ ist ein verletzendes Stigma, das den Menschen im Bürgergeldbezug nicht gerecht wird. Die hier beschriebenen Lebenswege sind nur Beispiele für die große Vielzahl an Menschen, die als sogenannte „Aufstocker“ arm trotz Arbeit sind, die sich im bürokratischen Dschungel durchkämpfen, sich selbstständig auf Stellen bewerben und sich so gut wie möglich um ihre Familien kümmern. Die Erfahrungen sind regional sehr unterschiedlich. Manche Menschen im Bürgergeld fühlen sich gut betreut und unterstützt, manche fühlen sich allein gelassen und sogar vernachlässigt. Gemeinsam haben sie, dass es ohne Eigeninitiative, gute Netzwerke und Unterstützung von Organisationen wie der Diakonie und der Caritas schwer wäre, über die Runden zu kommen.

Das Bürgergeld ist zu gering bemessen. Die Jobcenter scheinen überfordert, denn neben der Neuregelung des Bürgergeldes müssen sie seit Anfang des Jahres zusätzlich eingehende Wohngeldanträge im Rahmen des „Wohngeld Plus“ bearbeiten. Die Wünsche von René Kacza und der Familie Adler zeigen, was es braucht: Mehr Unterstützung bei der Jobsuche, eine persönliche Betreuung und fairere Startchancen für die Kinder – die Erhöhung des Regelsatzes kommt erst an zweiter oder dritter Stelle.

Hintergrund: Das Bürgergeld wurde zum 1. Januar 2023 als Ersatz für das Arbeitslosengeld II, genannt „Hartz IV“, eingeführt. Es bildet das Existenzminimum, das einem Menschen in Deutschland zum Leben zugestanden wird. Der Staat ist in der Pflicht, die Kosten für die Wohnung – im angemessenen Rahmen – die Heizkosten und Krankenkassenbeiträge für Menschen im Bürgergeld zu bezahlen. Zusätzlich erhalten Sie 502 Euro Regelsatz im Monat für alle weiteren Leistungen. Dieser steigt zum 1. Januar 2024 auf 563 Euro. Mit der Einführung des Bürgergeldes sollte nicht nur die finanzielle Situation der Menschen verbessert, sondern auch die Integration in den Arbeitsmarkt beschleunigt werden.