"Es ist ein Skandal!"- Ein Blick in hallesche Tafel

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Steffen Mikolajczyk
Referent Grundsatzfragen Sozialpolitik/ Sozialplanung

Diakonie Mitteldeutschland
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(8. Februar 2023) „Es ist ein Skandal, dass so viele Lebensmittel vernichtet werden. Und es ist ein Skandal, dass die Menschen ihren Regelbedarf nicht im Supermarkt decken können. Die Tafel übernimmt an vielen Stellen die Grundversorgung der Bevölkerung. Viele Ämter schicken sie einfach direkt weiter an die Tafeln.“ Oberkirchenrat Christoph Stolte fand bei einem Pressegespräch in der Tafel Halle-Neustadt gegenüber der Presse deutliche Worte. Einen Einblick in die Herausforderungen der Tafelarbeit geben wir Ihnen mit unserem aktuellen Beitrag.

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Sinnvolle Weitergabe. Viele Lebensmittel werden durch Supermärkte noch immer entsorgt, statt sinnvoll gespendet. Der Gesetzgeber ist hier in der Pflicht. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Die Tafel – Lebensretter für die Ärmsten der Gesellschaft

Es ist Dienstagvormittag, 11 Uhr. Viele Menschen stehen in einer Schlange vor dem grünen Zaun. Obwohl die Tafel erst 9 Uhr öffnet, warten einige schon ab 6 Uhr morgens vor dem Tor. Immer zu zweit oder zu dritt werden die Menschen eingelassen. Sie alle sind Kundinnen und Kunden der Tafel in Halle-Neustadt. Die Evangelische Stadtmission Halle betreibt die Tafel in einem ehemaligen Heizhaus. Montags bis freitags kommen viele Menschen hierher, um so gut wie möglich ihren Bedarf an Lebensmitteln, Drogerieartikeln und anderem zu decken. Die Produkte werden von Supermärkten, Drogerien oder anderen Händlern gespendet. Zwei Transporter sind täglich bis zu 140 Kilometer in und um Halle unterwegs um die Produkte einzusammeln und zur Tafel zu bringen. Dort werden sie an bedürftige Menschen verteilt.

Steigende Armut – mehr Anfragen

Jeder fünfte Mensch in Sachsen-Anhalt und Thüringen ist arm oder von Armut bedroht. Die Tendenz steigt. Die hohe Inflation und dadurch gestiegene Preise werden für einkommensschwache Familien zunehmend zum Problem. Das Geld reicht nicht immer bis zum Ende des Monats. Viele können sich den Einkauf im Supermarkt kaum oder gar nicht mehr leisten. Die Tafel wird für Sie zum Lebensretter. Um sich in einer Tafel versorgen zu können, braucht man einen Berechtigungsschein. Einkaufsberechtigt sind Menschen, die Sozialleistungen wie das Bürgergeld oder Zahlungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Über 2.000 Menschen versorgt allein die Hallesche Tafel mitten im Plattenbaugebiet Halle-Neustadt jeden Monat. Zudem werden derzeit zusätzlich etwa 500 Menschen aus der Ukraine versorgt. Es gibt immer wieder neue Anfragen. Doch mit den vorhandenen Ressourcen können kaum mehr Menschen versorgt werden, denn die Tafel erhält immer weniger Spenden. Supermärkte und Drogerien kalkulieren ihr Sortiment oft besser, damit kein „Überschuss“ bleibt, der vorher den Tafeln zugutekam.

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Schlange stehen. Die Tafel öffnet wochentags immer 9 Uhr. Viele Menschen warten aber schon ab 6 Uhr morgens vor der Tür. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Strom, Heizung, Benzin – steigende Kosten erschweren die Arbeit

Die Arbeit in der Tafel wird zunehmend schwieriger. Die steigenden Kosten für Strom, Heizung und Benzin machen auch vor der Tafel nicht Halt und bringen so ein weiteres Problem mit sich: Wie sollen die gestiegenen Kosten gedeckt werden? Die Klientinnen und Klienten zahlen einen schmalen Obolus für die Einkäufe – für ein Brot beispielsweise zehn Cent – doch reicht das bei weitem nicht um die Kosten für den Betrieb der Tafel zu decken. Finanziert werden die Fixkosten vorwiegend aus Spenden, die meisten Engagierten arbeiten ehrenamtlich und somit unentgeltlich in der Tafel.

„Wer kann das übernehmen?“ – weniger Ehrenamtliche und reduzierte Öffnungszeiten

Michaela Herrmann, Diakonin in der Stadtmission Halle sagt: „Ohne Ehrenamtliche und die Gruppe unserer Beschäftigten wäre das überhaupt nicht möglich.“ Diese Gruppe der Beschäftigten besteht aus zwölf Menschen mit Behinderungen, die wochentags kräftig mit anpacken. Die Tafel ist damit auch eine Außenarbeitsstelle einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen, die ebenfalls von der Stadtmission Halle betrieben wird. Die beiden Angebote werden so miteinander verzahnt. Mit hohem Engagement stürzen sich die Beschäftigten in die Arbeit, regeln den Besucherverkehr, füllen die Regale auf und sortieren die Lebensmittel. Zusammen mit freiwillig Engagierten halten Sie den Betrieb am Laufen. Eine Arbeit, die oft auch erschöpfend und körperlich anstrengend ist. So beginnen die Fahrer, die die Lebensmittel aus den Supermärkten einsammeln, jeden Tag ihre Schicht um 6 Uhr morgens – und das freiwillig und ohne Bezahlung.

Die Zahl der Ehrenamtlichen sinkt, neue Ehrenamtliche, die dauerhaft und beständig eine Aufgabe oder Schicht in der Tafel übernehmen möchten, sind immer schwerer zu finden. Während der Corona-Pandemie ist das Engagement zeitweise gestiegen, da viele Menschen mehr Zeit hatten und alternative Freizeitangebote weggefallen waren. Doch dieser Effekt ist inzwischen verpufft. Die Folge: Die Dienste in der Tafel können immer schwerer abgedeckt werden. So kann zum Beispiel die Versorgungsstation für die Geflüchteten aus der Ukraine statt zweiwöchentlich inzwischen leider nur noch einmal im Monat öffnen.

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Ohne Ehrenamt geht nichts. Es braucht zahlreiche Hände, die freiwillig anpacken. Lebensmittel werden abgeholt, sortiert, eingeräumt, zusammengestellt und ausgegeben. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Bürgergeld und Handlungsdruck

Was man über die Arbeit der Tafel wissen sollte: Sie übernimmt nicht die Grundversorgung der Bevölkerung. Die Tafeln selbst verstehen sich als Lebensmittelretter, die bedürftigen Menschen ein Zubrot zur Verfügung stellen. Doch das scheinen viele staatliche Behörden und Ämter vergessen zu haben. Schnell wird mit dem Antrag auf das Bürgergeld gleich die Adresse der Tafeln mitgegeben. Dann heißt es: „Wenn Sie etwas zu essen brauchen, dann gehen sie dort hin.“ Das ist der eigentliche Skandal: Der Staat besitzt die Verantwortung, den Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen, das schließt eine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln zu bezahlbaren Preisen ein. Die Verantwortung auf die Tafeln abzuschieben, verstärkt die Armut und den Unmut in der Bevölkerung.

Viele Menschen haben Scham, eine Tafel aufzusuchen, auch wenn sie dazu berechtigt sind. Menschen, die 40 Jahre oder mehr gearbeitet haben, fühlen sich in ihrer Würde verletzt, wenn sie von der Tafel abhängig sind. In einem Sozialstaat, der diesen Namen verdient, müssen politisch Verantwortliche konsequent die Bekämpfung der Armut im Blick haben und jedem Menschen eine Lebensgrundlage schaffen, die eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht.

Dazu braucht es höhere Löhne und eine hohe Tarifbindung. Nur wer ausreichend Geld in der Tasche hat, kann sich das leisten, was zum Leben benötigt wird. Es braucht eine Kindergrundsicherung statt vieler Einzelleistungen. Denn besonders Kinder leider sehr unter der Armut und „erben“ diese von den Eltern. Wer aus einer armen Familie stammt hat ein erhöhtes Risiko selbst in Armut zu bleiben. Nötig ist ein Bürgergeld, das seinen Namen verdient. Die circa 50 Euro mehr sind ein Tropfen auf dem heißen Stein, den die hohe Inflation direkt verdampft. Die Berechnungsgrundlage muss sich ändern und den tatsächlichen Bedarf des Existenzminimums abbilden. Die Diakonie Deutschland hat ein alternatives Berechnungsmodell entwickelt. Und wir brauchen ein Lebensmittelrettungsgesetz, das die Vernichtung noch verzehrbarer Lebensmittel verhindert. So würden mehr Lebensmittel aus den Supermärkten in der Tafel statt auf der Mülldeponie landen.

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Ausverkauft. Die Spenden für die Tafeln gehen immer weiter zurück. Vieles ist schnell verteilt und reicht nicht für alle. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Hintergrund: Die Hallesche Tafel wird von der Evangelischen Stadtmission Halle betrieben, die seit 135 Jahren Menschen in Not unterstützt. Das Anliegen der Tafel in Halle ist es, Lebensmittel gerecht zu verteilen und niemanden Hunger leiden zu lassen. Dieses Handeln entspricht den christlichen Leitlinien der Stadtmission Halle. Die Stadtmission Halle ist Mitglied der Diakonie Mitteldeutschland. In Sachsen-Anhalt und Thüringen existieren 26 Tafeln, die Mitglied der Diakonie sind.