Zuversicht trotz harter Zeiten - Wohnungslosigkeit während der Corona-Pandemie

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Steffen Mikolajczyk
Referent Grundsatzfragen Sozialpolitik/ Sozialplanung

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(20. Februar 2022) Ein Einzelzimmer mit Bett, Schrank, Tisch und ein kleiner Fernseher. Ein Fenster mit Blick auf den Hof. Dreimal am Tag Essen, das vor die Tür gestellt wird. Dusch- und Toilettengänge mit Anmeldung und immer einzeln. Nein, das ist nicht die Einzelhaft eines Gefängnisses. So sind wohnungslose Menschen untergebracht, die sich mit dem Corona-Virus infiziert haben. Sie sind frei und müssen sich doch abgrenzen um andere Menschen in der Einrichtung zu schützen. Die Isolation kann hart und nervenaufreibend sein. Wie wohnungslose Menschen die Pandemie meistern, darüber berichten Mitarbeitende und Bewohner des „Haus Zuflucht“ in Erfurt.

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Mario Neumann (Name geändert) wohnt seit fünf Jahren im Haus Zuflucht. Er arbeitet als Logistiker und hofft, bald wieder in eine eigene Wohnung ziehen zu können. (Foto: Tristan Emanuel Fürstenau/Diakonie Mitteldeutschland)


Trauer, Schulden, Arbeitslosigkeit

Mario Neumann ist ein kräftiger Mann in den Vierzigern. Er heißt eigentlich anders, möchte aber seinen Namen nicht in diesem Beitrag lesen. Neumann arbeitet Vollzeit als Logistiker in einem Erfurter Lebensmittelunternehmen. Seinen Wohnsitz hat er im „Haus Zuflucht“, einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe. Die Evangelische Stadtmission und Gemeindedienst Erfurt gGmbH betreibt dieses Haus. Finanzielle Probleme, hohe Schulden und anschließend die Privatinsolvenz. Mario Neumann hat fast alles verloren, was er besessen hat. Im „Haus Zuflucht“ findet er glücklicherweise Unterstützung. Seit fünf Jahren lebt er hier. Er und über 30 andere Männer wohnen in Einzelzimmern. Jeden Tag macht er sich mit dem Fahrrad, der Straßenbahn oder zu Fuß auf den Weg zur Arbeit. Er verdient sein eigenes Geld und begleicht seine Rückstände.

„Ich wusste, ich habe einen Haufen Schulden. Ich habe auch kein Ende mehr gesehen.“ Das berichtet Mario Neumann im Rückblick auf seine Lage. Jetzt hat er ein klares Ziel vor Augen: Endlich wieder in eine eigene Wohnung ziehen, vielleicht sogar in eine Zweiraumwohnung, damit ihn seine drei Kinder und sein Enkelkind besuchen können.

Die Gründe, wieso Menschen in die Wohnungslosigkeit geraten, sind vielfältig. Oft hat ein persönlicher Schicksalsschlag mit finanziellen Problemen zu tun. Eine Trennung oder der Tod des Partners oder der Partnerin, der Verlust eines Kindes, aber auch ein Überangebot an Konsumgütern und der falsche Umgang mit Geld, Arbeitslosigkeit, Krankheit, psychische Probleme oder eine Alkohol- oder Drogensucht sind es, die Menschen in die Abwärtsspirale führen. Die Rechnungen stapeln sich, irgendwann kommt der Räumungsbescheid.

Ein Unternehmer, ein Arzt und ein Logistiger. Viele der Männer haben oder hatten einen Beruf. Sie standen mit beiden Beinen fest im Leben. Der Weg zurück in dieses „normale Leben“ ist nicht einfach. „Rein kommt man in so eine Situation schnell. Das Rauskommen ist unangenehm und tut weh.“, sagt Sylvia Voigt dazu. Sie ist die Leiterin der Wohnungsloseneinrichtung. Die Ursachen der Probleme sind vielfältig – genauso wie die Hürden, die einer Lösung im Weg stehen. Dennoch: etwa ein Drittel der Männer, die schon längere Zeit im „Haus Zuflucht“ leben, gehen einer geregelten Arbeit nach. Viele haben gute Ausbildungen absolviert.

Für die Mitarbeitenden ist es schwierig die Wohnungslosen wieder in eine eigene Wohnung zu vermitteln: Knapper Wohnraum, hohe Mieten und persönliche Schulden und Schufa-Einträge der Wohnungslosen arbeiten dagegen. Oft scheitert es auch an der persönlichen Einstellung. Manche Menschen sind es einfach nicht mehr gewöhnt, einen eigenen Haushalt zu führen oder sie haben Angst vor der Einsamkeit der Einzimmerwohnung.

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Sylvia Voigt und ihre Kolleginnen betreuen die Männer, die im „Haus Zuflucht“ in Erfurt eine vorübergehende Heimat gefunden haben. (Foto: Tristan Emanuel Fürstenau/Diakonie Mitteldeutschland)


„Ich hoffe, ich überstehe es.“ – Infektion und Quarantäne

Der Ausbruch der Pandemie kam plötzlich und hat auch das Leben im „Haus Zuflucht“ sehr verändert. Im Juni 2021 hatte sich Mario Neumann mit dem Corona-Virus infiziert. Schnell war das Gesundheitsamt da und ordnete eine Quarantäne an. Die meisten infizierten Menschen verbringen ihre Quarantäne zu Hause. Doch wo soll ein Wohnungsloser hingehen? Die Mitarbeitenden im „Haus Zuflucht“ sind pragmatisch: Mario Neumann blieb zwei Wochen allein in seinem Zimmer. Die Mitarbeiterinnen der Hauswirtschaft stellten ihm das Essen vor die Tür. Nach Absprache konnte er ein separates Badezimmer nutzen, damit er keinen Kontakt im Gemeinschaftsbad zu den anderen Bewohnern hatte. Die Verbindung nach draußen hielt man per Telefon oder mit großem Abstand über das Fenster zum Hof. Die Corona-Erkrankung machte Mario Neumann schwer zu schaffen. Durch den Geschmacksverlust aß er zu wenig und nahm stark ab. Unwohlsein stellte sich ein. Dazu noch die lange Isolation.

Woran denkt man, wenn man zwei Wochen lang in einem kleinen Zimmer sitzt und kaum Kontakt zu anderen Menschen hat? „Ich hoffe, ich überstehe es. Wann kann ich wieder auf Arbeit? Ich muss raus. Ich muss arbeiten.“ Man merkt Mario Neumann den Stolz in der Stimme an, wenn er von seiner Arbeit spricht. Sie gibt ihm Halt, bereitet ihm Freude und gibt seinem Tag die Struktur. Er hofft deswegen sehr, von einer erneuten Infektion verschont zu bleiben: „Noch einmal möchte ich das nicht haben. Aber man weiß ja nicht, wo man sich das einfängt. Wenn sich alle in der Gesellschaft an die Regeln halten würden, hätten wir das Problem nicht.“

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Die gemeinsamen Mittagsrunden sind der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen. Die Männer müssen ihre Mahlzeiten mit Abstand an den Einzeltischen oder allein in ihren Zimmern zu sich nehmen. (Foto: Tristan Emanuel Fürstenau/Diakonie Mitteldeutschland)


Einsamkeit? Gewaltausbrüche? Fehlanzeige!

Das Haus Zuflucht bietet verschiedene Hilfsangebote an. Neben dem ambulant betreuten Wohnen für Männer, die hoffen bald wieder in eine eigene Wohnung zu ziehen, gibt es das Nachtasyl mit Mehrbettzimmern. Außerdem gibt es den Wohnbereich für chronisch Mehrfacherkrankte und einen intensiv betreuten Wohnbereich mit Männern, deren weitere Unterbringung noch nicht geklärt ist. Frauen und Frauen mit Kindern wohnen in einer eigenen Einrichtung in Erfurt. Viele Menschen also, die in der Wohnungslosenhilfe leben. Manche verbringen die Zeit der Pandemie auf engstem Raum, manche ganz allein in ihren Zimmern. Wie erleben sie die Veränderungen? Viele Freizeitangebote sind weggefallen. Die farbenfrohen Bilder an den Wänden im Flur erinnern an die Malseminare, die früher stattfinden konnten. Fotos im Speisesaal zeigen fröhliche Gesichter bei vergangenen Sommerausflügen in das Freizeitheim Reinsfeld. Dazu die Erinnerungen an Weihnachts- und Faschingsfeste. Vieles kann nicht oder nur eingeschränkt stattfinden. Doch die Wohnungslosen halten sich tapfer. Über Einsamkeit beklagt sich niemand, Gewalt kommt im Wohnbereich nie und im Nachtasyl nur gelegentlich vor. Man merkt, die Menschen hier sind an harte Zeiten gewöhnt.

Die neuen Hygieneregeln durchzusetzen war kein Problem. In Wohnungsloseneinrichtungen gab es schon vor dem Corona-Ausbruch strenge Hygienepläne. Aids, Tuberkulose, Hepatitis – man ist den Umgang mit Infektionskrankheiten gewohnt. An die Maskenpflicht, regelmäßiges Lüften und Händedesinfizieren musste anfangs viel erinnert werden, doch ist das heute selbstverständlich.: „Wenn man es einmal am Leib erfahren hat, dann gewöhnt man sich auch an die Maske. Ich muss die sowieso acht Stunden am Tag auf Arbeit tragen.“ So beschreibt Marion Neumann seinen Umgang mit der Pandemie. Er hat sich auch impfen lassen.

Für die Mitarbeitenden ist es allerdings schwer den Bewohnern zu erklären, warum und wie sie sich schützen müssen. Ständig ändern sich die Verordnungen. Wohnungslosenunterkünfte werden in den Corona-Verordnungen des Gesetzgebers nicht explizit erwähnt, sondern sind unter dem Stichwort „Gemeinschaftsunterkünfte“ immer nur „mitgemeint“. Das ärgert die Leiterin Sylvia Voigt und die anderen Mitarbeitenden. „Ich habe vermisst, dass irgendwo wirklich mal das Wort Wohnungslosenhilfe steht.“, beklagt sich Sylvia Voigt. Dadurch würden sich die vielen Mitarbeitenden in diesem Arbeitsbereich wertgeschätzt fühlen, die Wichtigkeit ihres Engagements würde stärker betont werden.

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Farbenfrohe Zuversicht. Betritt man das „Haus Zuflucht“, dann fallen sofort die bunten Bilder in den Fluren ins Auge. Die Bewohner haben sie selbst gemalt. Doch Freizeitangebote, wie die Malseminare, können coronabedingt gerade nur eingeschränkt oder gar nicht stattfinden. (Foto: Tristan Emanuel Fürstenau/Diakonie Mitteldeutschland)

Trotz der Situation, die für viele der Männer auch vor dem Ausbruch der Pandemie schon schwierig war, bleibt man im „Haus Zuflucht“ zuversichtlich. Die Mitarbeitenden und die Bewohner versuchen das Beste aus der Situation zu machen. Die gute Vernetzung innerhalb der Stadt hilft dabei. Das hat sich besonders in der Weihnachtszeit gezeigt. Viele Bürgerinnen und Bürger brachten Speisen vorbei oder spendeten Geld. Erfurter Unternehmen spendeten die Weihnachtsgeschenke, den Weihnachtsbaum und Hygieneartikel. Ein Restaurant aus der Umgebung lieferte sogar das Weihnachtsessen: Gulasch, Rotkohl und Klöße. Da zeigen sich trotz der Pandemie auch die schönen Momente in der Einrichtung. Die Hoffnung auf bessere Zeiten ist groß. „Wir erfreuen uns an den kleinen Sachen, wie die leuchtenden Augen bei der Weihnachtsfeier. Das beruhigt und gibt auch wieder Kraft für schwere Zeiten.“, zieht Sylvia Voigt ihr Fazit.

Die Zuversicht merkt man auch vielen der wohnungslosen Menschen an. Es sind die ganz banalen Dinge, die sie in der Corona-Zeit besonders vermissen. Mario Neumann: „Einfach nur das Weggehen. So wie früher, mit Kollegen. Ich hoffe nur, dass es bald mal vorbei ist.“

Hintergrund: Das „Haus Zuflucht“ in Erfurt ist eine Einrichtung in Trägerschaft der Evangelischen Stadtmission und Gemeindedienst Erfurt gGmbH. Dort erhalten wohnungslose Menschen im Notfall ein Nachtasyl oder eine dauerhafte Unterbringung. Ziel ist in der Regel eine Rückkehr der Menschen in eigenen Wohnraum zu erreichen. Viele der Bewohner sind allerdings chronisch mehrfach erkrankt. Sie bleiben dauerhaft im „Haus Zuflucht“ und werden von einem ambulanten Pflegedienst versorgt. Menschen, die wieder in eine eigene Wohnung vermittelt wurden, werden im Rahmen der Nachbetreuung weiterhin von den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern der Einrichtung unterstützt. Außerdem werden sie auch weiterhin zu Festen und Aktivitäten der Einrichtung eingeladen. Mehr über die Wohnungslosenhilfe in Erfurt erfahren Sie hier: http://www.stadtmission-erfurt.de/pages/haus-zuflucht.php