Die sozialen Fragen und Luther - Betrachtungen für die Diakonie heute

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OKR Christoph Stolte
Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland

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(Auszüge aus einem Vortrag von Oberkirchenrat Christoph Stolte, gehalten auf der Mitgliederversammlung der Diakonie Mitteldeutschland am 26.10.2017)

(31. Oktober 2017, Reformationsjubiläum) Im Jahr 2017 und zum Reformationstag heute feiern wir 500 Jahre Reformation. Nun war Luther kein Diakoniker im Sinne der Diakonie des 19. Jahrhunderts und auch des modernen Managements eines diakonischen sozialwirtschaftlichen Unternehmens im Wettbewerb mit anderen Anbietern. Luther kannte keine Kostensatzverhandlungen oder die Fülle sozial-, handels- und steuerrechtlicher Regelungen. Luther war auch kein Experte für Sozialethik.

Türhaus der Gerechtigkeit auf der Weltausstellung Reformation in Wittenberg

Türen der Gerechtigkeit – ein Beitrag der Diakonie Deutschland zum Reformationsjubiläum. Weltausstellung 2017 in Wittenberg. (Foto: Frieder Weigmann)

Aber Luther wurde durch die soziale Situation, schnellem gesellschaftlichem Wandel und an ihn herangetragene sozialethische Herausforderungen genötigt, sich mit sozialen Fragen zu beschäftigen.

Die nachfolgenden Überlegungen verstehen sich als Gesprächsimpulse. Sie greifen einzelne Aspekte von Luthers Theologie und Wirtschaftsethik im Hinblick auf diakonischen Herausforderungen heutiger Zeit auf. Sie sind fragmentarisch in dem Sinne, dass sie eine Sammlung unterschiedlicher Themen aufgreifen und Fragen formulieren zu denen Antworten teilweise erst entwickelt werden müssen.

Leben aus der Gnade Gottes oder „Wie präsent ist die uns in Christus zugesagte Barmherzigkeit in unserer heutigen Diakonie?"

Wir sind – mit allen Stärken und Schwächen, Vermögen und Unvermögen – von Gott in Christus angenommen und gerechtfertigt. Diakonisches Handeln ist die Umsetzung dieser erfahrenen Gnade im alltäglichen Leben, bei uns selbst und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Es stellt sich die Frage: Was bedeutet dieses nun für die theologische Bildung und für die Verkündigung in unseren Einrichtungen? Reicht es aus, in diakonischen Seminaren das Leitbild zu vermitteln und Loyalität der Mitarbeitenden zu erwarten? Wie groß muss die Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer Einrichtung sein, die anderen von ihrem eigenen Christusglauben erzählen?

Da viele Mitarbeitende nicht getauft sind, müsste konsequenterweise eine viel intensivere Verkündigung der Christusbotschaft nach innen, in die Mitarbeiterschaft hinein in einem missionarischen Sinne erfolgen.

Für Luther ist eindeutig: Gute Werke sind eine Folge des Christusbekenntnisses, der persönlichen Annahme der dem einzelnen zusagten Gnade Gottes. Annahme in Christus ist mehr als gegenseitige Akzeptanz als Arbeitskollegin bzw. Arbeitskollege und Unternehmensloyalität. Es ist göttliches Wirken an uns selber, auf welches der einzelne vertraut. Es ist eine Kraftquelle der Nächstenliebe, die das Leben in der unvollkommenen Welt ermöglicht.

Es bleibt die Frage: Wie missionarisch soll und darf theologisch-diakonische Bildung gegenüber Mitarbeitenden sein?

Heutige Diakonie muss nach innen offensiv, fröhlich und selbstbewusst für den Glauben an Christus werden, damit mehr Menschen die Barmherzigkeit Gottes in Christus für sich selber annehmen!?

Die Gnade Gottes führt in die Freiheit der Lebensgestaltung und damit zu einer konsequenten Hinwendung zum Menschen in der vorfindlichen Welt

Luther hat sich als Mönch viele Jahre von der realen Lebenswelt seiner Umwelt abgewendet, um sich auf die Erlangung des Seelenheiles zu konzentrieren. Das theologische Neudenken, die Besinnung auf die Heilige Schrift führt ihn mitten in die Wirklichkeit seiner Zeit. Dieses gilt für Kirche und Diakonie heute ebenso. Alle Rufe, die Kirche und ihre Diakonie mögen doch weniger politisch und damit auch weniger unbequem sein, stehen dem Evangelium entgegen. Wir sind durch Gottes Gnade nicht nur befreit, sondern verpflichtet zur vernehmbaren Weltgestaltung. Die anwaltliche Funktion für die Menschen, die aus dem Blick geraten sind und keine Stimme haben, ist wichtig. Dieses gilt gegenüber allen Menschen, gleich welcher Herkunft, Kultur, Sprache und Religion.

Daher darf Diakonie sich auch nicht auf die sozialwirtschaftlichen Geschäftsfelder zurückziehen, die unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen wirtschaftlich erfolgreich darzustellen sind. Es gilt, so wie es möglich ist, in der Unterstützung von Menschen in Leistungsbereichen, die nicht ausfinanziert sind.

Diesem Anspruch werden wir immer nur teilweise gerecht werden. Dieses ist so und gehört zu unserer christlichen Existenz hinzu.

Gottes Gnade befreit zu einer freien Gestaltung diakonischer Dienstleistung in persönlicher Verantwortung

Luther denkt konsequent von der Freiheit und Verantwortung des einzelnen Menschen aus und nicht von Institutionen her. Wie in der Kastenordnung deutlich wird, verweist er die soziale Unterstützung weder an die Obrigkeit noch an die Institution der Kirche, sondern einer subsidiären Organisation, die von gewählten Mandatsträgern aus dem Gemeinwesen gestaltet und verantwortet wird.

Daher ist die plurale und vielfältige, auch unübersichtliche Struktur der Diakonie lebendiger Ausdruck dieser persönlichen Freiheit und Verantwortungsübernahme. Diakonische Träger entstammen mehrheitlich nicht der Organisation der verfassten Kirche, sondern der Initiative von Christen, die sich von der Not anderen habe berühren und bewegen lassen.

Zugleich ist die unternehmerische Organisation in Vereinen und Stiftungen, aber auch in Kapitalgesellschaften Menschen in der verfassten Kirche immer auch etwas fremd. Viele von ihnen kennen aus eigenem Erleben das Unverständnis und auch Misstrauen gegenüber dem unternehmerischen Agieren von Diakonie. Doch seit dem 19. Jahrhundert werden die damals neuen Möglichkeiten der vereins- und gesellschaftsrechtlichen Organisation, insbesondere des eingetragenen Vereins, aktiv genutzt, um dem eigenen Gestaltungswillen sozialer Hilfestellung Struktur und Ordnung zu geben.

Somit sind die Vielfalt und die damit verbundene Unübersichtlichkeit der Diakonie lebendiger Ausdruck der freien Verantwortungsübernahme und ein großer Reichtum. In Vorständen, Kuratorien, Verwaltungsräten, Mitgliederversammlungen etc. übernehmen viele Menschen – meist im Ehrenamt - persönlich Verantwortung.

Zugleich sind alle diese Strukturen nur Hilfsmittel, um diakonische Aufgaben zu erfüllen. Sie sind nicht Zweck an sich und dürfen es auch nicht werden.

Zur Freiheit und Verantwortung gehört auch die Frage, welches die richtigen Strukturen und Organisationsformen sind, um in einer sich wandelnden Gesellschaft und unter veränderten Rahmenbedingungen der diakonischen Aufgabe gerecht zu werden. Derzeit sind dieses die Bildung größerer Einheiten, um die anstehenden Investitionen und die Ausdifferenzierung der Leistungsfelder zu bewältigen. Luther betont immer wieder, dass die reale erfahrbare Hilfe für den Nächsten, modern die subjektive Ergebnisqualität bei den Klienten, Maßstab für zukunftsweisende, in aller Freiheit zu gestalten Strukturen und Organisationsformen sein muss. Freiheit ist damit auch immer Freiheit zum zeitgemäßen Wandel.

Woran misst sich Erfolg in der Diakonie?

Ich will an dieser Stelle nur auf ein Spannungsfeld hinweisen. Moderne Diakonie organisiert sich überwiegend als sozialwirtschaftliches Unternehmen am Markt der Anbieter sozialer Dienstleistungen. Am Jahresende wird die Bilanz erstellt. Die genaue betriebswirtschaftliche Führung wird dokumentiert und geprüft. Das betriebswirtschaftliche Jahresergebnis liegt nach den Vorschriften des HGB und anderer Gesetze vor.

Eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft geprüft und bewertet. Schließlich erreicht das Gesamtprüfungswerk das zuständige Aufsichtsgremium, die Hausbanken, teilweise wird es auch dem Spitzenverband übersendet.

Dokumentiert dies den Erfolg diakonischer Arbeit?

Auf der einen Seite ist dieses richtig. Es zeigt, ob mit dem der Geschäftsführung anvertrauten Vermögen in verantwortungsvoller und nachhaltiger Weise gewirtschaftet wurde. Es dokumentiert eine für jeden diakonischen Träger erforderliche zukunftsweisende oder eben auch nicht Zukunft gestaltende Führung. Damit ist es unerlässliche Grundlage für diakonische Unternehmensführung.

Aber es zeigt nicht, ob der diakonische Auftrag in allen Dimensionen umgesetzt wurde?

Der Verzicht auf nicht ausfinanzierte diakonische Arbeit würde die G&V verbessern. Die Anstellung eines Seelsorgers würde durch die entstehenden Kosten die G&V verschlechtern, weil dessen Personalkosten im Pflegesatz nicht verhandelbar sind.

Somit ist zum einen eine verantwortungsvolle und gut durchdachte betriebswirtschaftliche Steuerung unerlässlich, aber zugleich sind deren Ergebnisse nicht hinreichend aussagefähig, um über eine möglichst weitgehende Umsetzung des diakonischen Auftrages zu befinden.

Wie ein umfassender Kriterienkatalog für Erfolgsmessung in der Diakonie aussehen könnte, wäre intensiv zu diskutieren. Luther betont immer wieder den Dienstcharakter des Eigentums und des Wirtschaftens für den Nächsten, ohne jedoch sozialwirtschaftliche Unternehmungen heutiger Ausprägung erahnen zu können.

Arbeit – Beruf – Job: Haben wir einen Arbeits- oder einen Dienstvertrag?

In der Diakonie stellen wir Dienstverträge aus, die von unseren Mitarbeitenden oftmals als Arbeitsverträge bezeichnet werden. Sprachlich hat sich in den vergangenen Jahren der Ausdruck „Job“ in der deutschen Sprache durchgesetzt. Ich lese in Stellenanzeigen: „Ihr neuer Job bei der Diakonie.“ Unter den Aspekten der Marketingsprache sicher richtig, inhaltlich eher fragwürdig.

Luther hat den Begriff des Berufes, abgeleitet von Berufung, in der deutschen Sprache neu geprägt. Jeder einzelne ist – ganz gleich in welcher Tätigkeit – ein Berufener Gottes. Und dieses gilt nicht nur für Diakonissen, Diakoninnen und Diakone! Der Berufene weiß sich in seinem Vermögen und in dem, was ihm trotz Mühen nicht gelingt, auch in seinen Fehlern, von Gott getragen.

Wir sollten diesen besonderen Aspekt der Berufung zum Dienst wieder mehr in den Vordergrund stellen.

Zum einen ist Dienst in der Diakonie mehr als nur Arbeit, sondern eine innere Haltung. Es ist die Haltung sich im Vertrauen auf Gottes Hilfe dem Nächsten zuzuwenden. Rituale der Einsegnung lassen dieses sichtbar und erfahrbar werden.

Zum anderen ist es eine große Entlastung, denn Berufung zeigt, dass ich den Dienst nicht allein aus mir heraus gestalten muss. Gottes Segen gilt dem Tun und dem Lassen, und auch dem Fehler. Eine Fehlerkultur in diakonischen Unternehmen sollte von der Gewissheit getragen sein, dass Gott nicht mehr von uns erwartet, als wir zu leisten vermögen und Fehler vergibt.

Der sprachliche Übergang zum „Job“ in der Diakonie birgt somit eine Tendenz der Selbstsäkularisierung in sich, die den Aspekt der ungnädigen Überforderung in sich trägt.

Eine Schlussbemerkung:

Luther war weder ein ausgewiesener Sozialethiker noch Diakoniker. Aber Luther hat in sein theologisches Nachdenken und sein biblisches Verstehen auf die an ihn herangetragenen sozialethischen Fragen Stellung bezogen.

Seine theologische Grundlegung, alles Handeln des Menschen immer von der erfolgten Rechtfertigung zu denken, hat in einer immer stärker auf individuelle Leistung bezogenen Gesellschaft und in einer sich immer stärker unternehmerisch effizient optimierenden Diakonie eine hohe Relevanz.

Geschenke Gnade eröffnet Freiheit, Gestaltungsräume und eine fröhliche Lebendigkeit, sich den vielen offenen Fragen unserer Zeit angstfrei zu stellen. Angstfrei, weil uns Gottes Zuwendung gilt.

Diese angstfreie Zuwendung zu dieser Welt gilt es zu leben und in unserer Zeit weiterzugeben. Im Bundestagswahlkampf hat die Partei mit den blauen Plakaten intensiv um Wählerstimmen geworben, indem sie Angst gemacht bzw. verstärkt hat, Angst vor „Überfremdung“, Angst vor sozialem Abstieg, Angst vor Entmündigung und anderes mehr.

In Christus handelt Gott genau anders. Er nimmt die Angst vor dem Leben, damit wir in Freiheit und Verantwortung unsere Gesellschaft gestalten können.