Erfahrungen aus der Pandemiezeit - Diakoniebericht auf der EKM-Synode 2021
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OKR Christoph Stolte
Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland
Merseburger Straße 44, 06110 Halle (Saale)
E-Mail vorstand-vors@diakonie-ekm.de
(18. November 2021) „Das zweite Jahr Leben und Arbeiten unter den Bedingungen der Pandemie geht seinem Ende entgegen. Diese Zeit hat uns verändert. Jeder hat auf seine Weise einschränkende, manchmal schmerzhafte Erfahrungen gemacht und zugleich Bereicherndes entdeckt.“
Oberkirchenrat Christoph Stolte berichtete am 18. November auf der Herbstsynode der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland von Gesprächen, Erfahrungen und Entwicklungen in diakonischen Einrichtungen. In diesem Blogbeitrag lesen Sie einen Auszug seines Berichtes.
Der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Mitteldeutschland, Oberkirchenrat Christoph Stolte, sprach schon auf der Mitgliederversammlung der Diakonie Mitteldeutschland am 11. November 2021 von schmerzhaften Erfahrungen und wichtigen Lehren aus der Corona-Pandemie (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)
Was haben wir gelernt? Was wird gebraucht? Schlussfolgerungen und Forderungen
Die Corona-Pandemie hat wie mit einem Brennglas bestimmte wesentliche Aufgaben der Wohlfahrtsverbände und deren Einrichtungen aufgezeigt. Zugleich traten langjährig bekannte Problemfelder in den Vordergrund und können nun nicht mehr übersehen werden.
Diakonie ist Begegnung
Nächstenliebe ereignet sich immer zwischen Menschen. Dazu gehört, sich wahrzunehmen, möglichst ganzheitlich, mit allen Sinnen. Dazu gehört die Begegnung, in der sich Menschen wirklich sehen. Dazu gehört, miteinander in Kommunikation zu sein, mit Worten, Gesten, verbal, nonverbal. Diese Selbstverständlichkeiten stellte die Corona-Pandemie infrage, sie haben sich als scheinbar selbstverständlich erwiesen und wurden in den vielfältigen Dimensionen reduziert. Bewohnende eines Pflegeheimes erkannten die unter Vollschutz arbeitenden und im Grunde maskierten Pflegerinnen und Pfleger nicht mehr.
Statt persönlicher Berührung nun Distanz. Angehörige durften einige Zeit nicht zu Besuch kommen, das schmerzliche Vermissen bestand auf allen Seiten. „Damals“ musste eine Entscheidung aus Gesundheitsgründen getroffen werden, heute müssen wir beklagen, dass die unverrückbare Würde des Menschen die Kosten trug. Die nach dem Jahreswechsel mögliche und verordnete Testung von Besucherinnen und Besuchern brachte zuerst vor allen Dingen einen sehr großen Mehraufwand für die Einrichtungen, der personell nur sehr schwer zu leisten war. Hier wäre eine externe und vor allem unkomplizierte Unterstützung der Pflegeeinrichtungen zwingend notwendig gewesen. Der Einsatz der Bundeswehr hatte dafür unverhältnismäßig hohe bürokratische Hürden.
Menschen mit Behinderung durften von einem Tag auf den anderen nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zum Beispiel in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Da brachen nicht nur der gewohnte Tagesrhythmus und ein wichtiger Lebensort weg, sondern die persönlich so wichtigen und wertvollen täglichen Begegnungen. Menschen konnten in persönlicher Not nur telefonisch beraten werden. Dabei fehlten so viele Dimensionen der gegenseitigen Wahrnehmung.
Kinder und Jugendliche waren in der Pandemie zu wenig im Blick. Sie haben in besonderem Maße gelitten. „Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen laut einer Hochrechnung in der Corona-Pandemie stark zu. Die Zahl derer, die sich etwa aufgrund von Essstörungen behandeln lassen haben, ist im Corona-Jahr 2020 um rund 60 Prozent gestiegen. Das zeigen Berechnungen der Krankenversicherung KKH, die sich auf Versichertendaten der ersten sechs Monate 2020 stützen. Auch andere psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Burnout haben demnach um rund 30 Prozent zugenommen. Bundesweit steigen die psychischen Erkrankungen unter den 6- bis 18-Jährigen um 20 Prozent.“ „Fast jedes dritte Kind litt ein knappes Jahr nach Beginn der Pandemie zudem unter psychischen Auffälligkeiten. Betroffen sind dabei vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen oder mit Migrationshintergrund.“ Nur den Blick auf die nachzuholende Schulbildung zu richten, ist zu kurzsichtig. Kinder und Jugendliche benötigen eine ganz besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung, damit es zu keinen negativen Langzeitfolgen kommt.
Die diakonischen Dienste und Einrichtungen haben in der Pandemie in der Regel ohne Unterbrechung weitergearbeitet. Sie haben schnell, kreativ und sehr engagiert neue Formen der Leistungserbringung überlegt, ausprobiert und weiterentwickelt. Der einzelne Mensch mit seinen Bedürfnissen stand immer im Mittelpunkt. Sie haben in den Grenzen des Möglichen Begegnung ermöglicht. Es ist eine wunderbare Erfahrung, wie kreativ und flexibel neue Wege zu den Menschen gegangen wurden.
Die Diakonie Mitteldeutschland kritisiert, dass ein Teil der Einrichtungen durch den Kostenträger zur Einstellung der Leistung gezwungen wurde. In diesem Fall musste die Unterstützung eingestellt werden. Menschen wurden allein gelassen. Das alles in einer Krisenzeit, in der die helfende Begegnung mehr denn je nötig war.
Diakonie als Begegnung ist in besonderer Weise wieder in den Mittelpunkt gerückt. Es geht nicht nur um eine pflegerische Verrichtung, sondern immer um zwischenmenschliche Begegnung, um gegenseitige persönliche Wahrnehmung, um Ermutigung, Trost und Hilfe. Wir haben gelernt, mit digitaler Kommunikation umzugehen und diese zielgerichtet zu nutzen. Eine persönliche Begegnung kann jedoch dadurch nicht ersetzt werden.
Es darf nicht wieder dazu kommen, dass wir Menschen in die Einsamkeit zwingen. Alte Menschen, Kinder und Jugendliche haben darunter in besonderem Maße leiden müssen. Menschen, die aufgrund der Pandemie erkrankt sind, benötigen Hilfe. Dabei sind Kinder und Jugendliche besonders in den Blick zu nehmen. Die Forderung nach sozialer Teilhabe für alle Menschen, besonders in Krisenzeiten, werden wir in den kommenden Jahren viel stärker in den Vordergrund stellen.
Nachdem im vergangenen Jahr die Herbstsynode der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland nur digital tagen konnte, findet diese dieses Jahr wieder in Präsenz statt. Unter Wahrung der Abstandsordnung und strikter Einhaltung der 3G-Regel. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)
Diakonie wird durch Menschen gestaltet und gelebt
Für viele Kolleginnen und Kollegen in diakonischen Einrichtungen brachte die Pandemie eine starke Arbeitsverdichtung. Ehrenamtliche Unterstützung konnte nicht fortgeführt werden, unterstützende Angehörige durften zeitweise die Einrichtungen nicht betreten. Die direkte Kommunikation zu den Klientinnen und Klienten war erschwert, nur teilweise digital zu ersetzen und erheblich aufwändiger. Der Ausfall von Kolleginnen und Kollegen aufgrund von Erkrankungen oder der Betreuung der eigenen Kinder musste kompensiert werden. Zusätzlich kam der besondere Aufwand zur Sicherstellung der besonderen Hygienestandards und das schwere Arbeiten in Schutzausrüstung. Oftmals mussten neue Wege der Leistungserbringung gesucht werden, um Menschen nicht ohne Hilfe allein zu lassen. Die Kolleginnen und Kollegen in der sozialen Arbeit haben Herausragendes geleistet, sehr flexibel reagiert und einen großen zusätzlichen Arbeitseinsatz erbracht. Eine große Solidarität und kollegiales Verhalten untereinander waren dabei sehr motivierend.
In der Pandemie wurde teilweise die Finanzierung von sozialen Einrichtungen infrage gestellt, so dass Mitarbeitende in Kurzarbeit gedrängt wurden. Ein Thüringer Landkreis hat sogar im eigenen Amtsblatt und in der örtlichen Tageszeitung mitgeteilt, dass seine Kosteneinsparungen im Jahr 2020 insbesondere durch die Schließung sozialer Einrichtungen erreicht wurden.
Die Diakonie Mitteldeutschland fordert die Sicherstellung der Finanzierung aller sozialen Einrichtungen und Dienste, damit auch in Krisenzeiten Kolleginnen und Kollegen in gegebenenfalls angepasster Weise ihre Dienste für die Menschen erbringen können.
Von den politisch Verantwortlichen und auch der Gesellschaft fühlen sich viele Kolleginnen und Kollegen in der sozialen Arbeit zu wenig gesehen und wertgeschätzt. Die Anerkennung sozialer Berufe durch bessere verlässliche Arbeitsbedingungen auch in Krisenzeiten und eine gute Bezahlung müssen erhöht werden. Der in vielen Einrichtungen stets knapp bemessene Personalschlüssel insbesondere in der Pflege wurde in der Corona-Krise öffentlich erkennbar. Im vergangenen Winter sind einzelne Pflegeeinrichtungen derart in Not geraten, dass sie die Dienste nicht mehr absichern konnten.
Durch gegenseitige Unterstützung der diakonischen Träger und die Aktion „Kümmern statt Klatschen“ der Diakonie Mitteldeutschland konnte schnell geholfen werden. Die Probleme der nicht ausreichenden Personaldecke sind seit Jahren bekannt, nachhaltige Lösungen wurden bisher politisch nicht auf den Weg gebracht.
Die Diakonie Mitteldeutschland fordert alle Beteiligten auf, gemeinsam das Problem der zu geringen Personalausstattung sozialer Einrichtungen lösungsorientiert und nachhaltig zu bearbeiten.
Diakonie digital
Die Corona-Pandemie hat zu einer schnellen Weiterentwicklung der Digitalisierung und digitalen Ausstattung sozialer Einrichtungen geführt. Viele Kolleginnen und Kollegen haben soweit dieses möglich war, Klientinnen und Klienten digital beraten. Videokonferenzen sind zu einem selbstverständlichen Kommunikationsinstrument sozialer Arbeit geworden. Die Vorteile und zugleich die Grenzen der digitalen Kommunikationsformate sind nun gut bekannt. Zugleich müssen wir lernen, mit der Beschleunigung durch digitale Kommunikation so umzugehen, dass gesundes Arbeiten möglich ist.
Eine unzureichende digitale Ausstattung und ein instabiler Netzzugang brachten große Schwierigkeiten in vielen Einrichtungen und Diensten. Fehlende digitale Endgeräte oder fehlender stabiler Internetzugang zogen einen Abbruch der Kommunikationsbeziehungen und damit der Betreuung und Beratung nach sich. Digitale Beratung ist kein gleichwertiger Ersatz für persönliche Begegnung und Gespräche. Sie kann jedoch ein zusätzliches Angebot sein und erweitert die Möglichkeiten der Unterstützung.
Wenn zukünftig online- und offline-Angebote grundsätzliche Instrumente in der sozialen Arbeit sein sollen, muss dafür auch die nötige Infrastruktur und kontinuierliche Finanzierung sichergestellt werden.
Zudem muss die Digitalisierung gleiche gesellschaftliche Teilhabe für alle Bevölkerungsgruppen ermöglichen. Benachteiligte und/oder von Armut betroffene gesellschaftliche Gruppen wurden in der Pandemie in besonderer Weise von Kommunikation, Information und Beratung ausgeschlossen. Ausgrenzung von Bildungsangeboten oder Online-Unterricht haben soziale Ungleichheiten noch verstärkt. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler wurde von der veränderten Beschulung schlicht ausgeschlossen. Lernrückstände und schmerzhafte Erfahrungen der Exklusion sind die Folgen.
Daher sehen wir die Umsetzung eines Grundrechts auf Internetzugang für notwendig an. Sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen benötigen zudem eine niedrigschwellige Vermittlung digitaler Kompetenzen.
Diakonie und Politik – Diakonie macht Politik
Die Diakonie Mitteldeutschland und ihre Mitglieder tragen wie auch die anderen Wohlfahrtsverbände, zur Verbesserung der Lebenslagen von sozial benachteiligten Menschen bei. Sie nehmen eine Vielzahl öffentlicher Aufgaben wahr und sind sowohl in das Sozial- und Gesundheitswesen als auch in die Bildungslandschaft eingebunden. Eine große Zahl der Arbeitsfelder sind unmittelbar oder mittelbar systemrelevant.
Der Schutz und die Versorgung vieler Menschen wurden durch Einrichtungen der Diakonie in der Krisenzeit sichergestellt. Zugleich hatten alle Landesverordnungen für die Aufrechterhaltung der sozialen Leistungen unmittelbare Folgen. Wenn kurzfristig Kindertageseinrichtungen und Schulen geschlossen werden, betrifft das auch Kolleginnen und Kollegen in allen Einrichtungen und es wird sehr schwer, die Dienste in Pflege und Betreuung abzusichern.
Es hat sich gezeigt, dass zukünftig die Wohlfahrtsverbände auf Landes- und kommunaler Ebene in Krisen wie einer Pandemie unmittelbar an den Planungsstäben beteiligt werden müssen, um eine gute Koordinierung und Kommunikation zu ermöglichen. Zudem sollten sie im Vorfeld an der Erstellung von Landesverordnungen beteiligt werden. Gut etablierte Kommunikationswege für Informations- und Abstimmungsprozesse zwischen den Verwaltungen und den Trägern sozialer Arbeit sind elementar, um in einer Krise die sozialen Leistungen nicht abbrechen zu lassen. Dieses ist nur teilweise gelungen und bedarf einer Klärung für künftige Krisenzeiten.
Oberkirchenrat Christoph Stolte,
Vorstandsvorsitzender der Diakonie Mitteldeutschland
auf der Synode der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland am 18. November 2021
Hintergrund: Die Synode der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland ist ein Gremium, welches wegweisende Beschlüsse für die Kirchenkreise und -gemeinden in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Teilen Sachsens und Thüringens beschließt. Die Synode tagt üblicherweise zweimal im Jahr. Die zweite Tagung der III. Landessynode findet vom 17. bis 20. November im Landeskirchenamt in Erfurt statt. Der Synode gehören 80 berufene und gewählte Mitglieder an – einige von Amtswegen. Der Diakoniebericht wurde am 18. November 2021 von Oberkirchenrat Christoph Stolte vorgetragen. Den vollständigen Diakoniebericht zur Synode finden Sie als Drucksache auf der Webseite der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Auf YouTube ist der Bericht von Christoph Stolte auf der Synode als Video zu sehen.