Ein Tag in einer Migrationsberatung in Quedlinburg

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Frieder Weigmann
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(14. April 2022) Stefan Blasek ordnet noch ein paar Unterlagen. Freitag, 8.15 Uhr, Tee dampft in der Tasse. Er sitzt vor einer Tafel in einem kleinen Seminarraum der Kreisvolkshochschule Harz in Quedlinburg. An den Wänden Verse von Friedrich Gottlieb Klopstock. Die kunstvollen Worte des Dichters, 1724 in Quedlinburg geboren, passen nicht zur Aufgabe dieses Tages: Menschen in ihrem Ankommen in Deutschland beraten.

Schnell noch eine Mail und ein Blick auf das Diensthandy. Wir haben ein paar Minuten für ein kurzes Vorgespräch. Was wird heute passieren, was steht auf dem Dienstplan? Ich werde Stefan Blasek einen Tag lang in seiner Arbeit begleiten. Schnell einigen wir uns auf das „Du“. In der Migrationsberatung geht es um eine einfache und verständliche Sprache, um Zugang und Gespräche auf Augenhöhe. Stefan Blasek, 32, hat sich deshalb angewöhnt, auch seinen Klientinnen und Klienten das Du anzubieten.

Der erste kommt 8.30 Uhr. Nebi K. ist kürzlich Vater geworden, er braucht Unterstützung, um das Neugeborene in seiner Familienversicherung anzumelden. Nebi kam aus der Türkei nach Deutschland, lebt seit Jahrzehnten hier. Und er ist Analphabet, ohne Hilfe kann er kein Formular ausfüllen.

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Stefan Blasek im Gespräch mit Nebi K. (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

9.00 Uhr, eine junge Frau in dickem Daunenmantel kommt in die Beratung. Kamar H. ist Syrerin, auf der Flucht 2015 nach Deutschland gekommen. Sie möchte endlich eine Ausbildung machen und nicht noch eine Integrationsmaßnahme durchlaufen. Sie will arbeiten und eigenes Geld verdienen, fürchtet aber mögliche Sanktionen vom Jobcenter. Stefan Blasek telefoniert mit der Fallberaterin. Er verspricht Kamar, mit Ausbildungsbetrieben Kontakt aufzunehmen.

Stefan ist Quereinsteiger, hat sich in verschiedenen Studienfächern probiert und eine Ausbildung zum Immobilienkaufmann absolviert. „In dem Job fühlte ich mich irgendwann auf der falschen Seite.“ Eine innere Krise führte ihn zurück aus dem hektischen und fordernden Berlin in die Heimat, in die beschauliche Weltkulturerbe-Stadt Quedlinburg. Als ein Verein 2015 Flüchtlingshelfer sucht, findet Stefan Blasek seine neue Berufung, bildet sich weiter, arbeitet sich in komplexe Themen ein. So gut, dass er heute mit Berufsanerkennung professionelle Unterstützung geben kann. „Ein Migrationsberater hat es mit allen Hilfefelder zu tun: Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitsvorsorge, Krankenhaus, Pflege, Jobcenter, Mietrecht – jedes Beratungsgespräch bringt andere Fragen mit.“

9.45 Uhr treten wir den kurzen Weg zur Akademie Überlingen an. Um 10 Uhr stellt Stefan Blasek sich und die Migrationsberatung der Diakonie im Kirchenkreis Halberstadt vor. Etwa ein Dutzend Menschen nehmen hier an einem Orientierungskurs teil. Der private Bildungsträger und die Diakonie-Beratung suchen die Verzahnung, Stefan Blasek beschreibt den Kursteilnehmenden, in welchen Fragen er Unterstützung geben kann.

12 Uhr. Zeit für eine Pause auf einen Kaffee und Snack im „Samocca“. Es riecht betörend nach frisch geröstetem Kaffee. Die Lebenshilfe betreibt hier nicht nur ein gemütliches Café Deli nach New Yorker Vorbild, sondern auch ein Hostel. Beschäftigt sind hier Menschen mit und ohne Behinderung im professionellen und sehr freundlichen Service. Das Hostel kann derzeit nicht gebucht werden. 24 Menschen aus der Ukraine haben jetzt in den Gästezimmern für unbestimmte Zeit Unterkunft.

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Mittagspause, Café Samocca in Quedlinburg (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Stefan erklärt, dass momentan von 16.800 Menschen aus der Ukraine, die in Sachsen-Anhalt registriert sind, 855 im Landkreis Harz leben. Davon sind 287 Kinder im schulpflichtigen Alter und 138 noch jünger. In Quedlinburg sind 152 Personen aus der Ukraine registriert. „Das ist innerhalb von fünf Wochen eine große Zahl von Menschen, die praktisch sofort Beratung und Begleitung brauchen. Die Verwaltung im Landkreis geht gerade erfreulich unbürokratisch und pragmatisch damit um. Und die Hilfsbereitschaft und das private Engagement sind großartig.“ 2015 war das weitaus schwieriger, fügt Stefan hinzu.

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Frauen und Kinder aus der Ukraine warten vor dem Beratungsraum (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

13 Uhr. Offene Sprechstunde für Geflüchtete aus der Ukraine. Etwa zwölf Frauen, eine Jugendliche und vier kleinere Kinder warten auf Einlass. Es wird ein Beratungsgespräch in zwei Gruppen. Das ist auch für Stefan ungewohnt. Inna Laue hilft. Die Usbekin lebt seit vielen Jahren in Deutschland, arbeitet als Sprachlehrerin unter anderem an der Kreisvolkshochschule. Sie übersetzt und unterstützt beim Ausfüllen von Formularen. Manchmal sind die Fragen und Antworten so kompliziert, dass Stefan Blasek, Inna Laue und die Ukrainerinnen diskutieren, wie man nun am besten einen ärztlichen Behandlungsschein bekommt und was in einem Mietvertrag stehen muss. Warum zahlt das Sozialamt die Wohnungsmiete, aber keine Kaution? Wenn ich einen Job habe: Wie wird die Entlohnung mit Sozialhilfe und Wohnungsbeihilfe verrechnet? Natalja H. hat einen Job gefunden und ist nun unsicher, ob sie von dem Lohn alle Kosten bestreiten kann.

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Anträge und Dokumente werden ausgefüllt (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Immer wieder kommt die Frage nach Wohnraum. „Wir sind dankbar, dass wir eine gute Unterkunft haben,“ erklärt eine junge Frau, die mit ihren Kindern in einem Hotelzimmer wohnt, „aber ich würde gern mal wieder etwas kochen. Wir haben immer nur kaltes Essen.“ Im Harz sind viele Geflüchtete in Ferienwohnungen untergekommen. Die Vermieter bekommen dafür Geld vom Landkreis – Pauschalen, die unter dem liegen, was eine Vermietung in Ferienzeiten einbringt. Kindergartenplätze gibt es gar nicht. „Deutsche Familien müssen ihre Kinder Jahre im Voraus für einen Platz anmelden.“, erklärt Stefan den jungen Müttern. Für die Schulkinder besteht Schulpflicht. Iwan möchte wissen, ob er in Deutschland auch gleich wieder in die zweite Klasse gehen kann. Aber ohne die Schuleingangsuntersuchung durch den Amtsarzt gibt es erstmal gar keine Zuweisung an eine Schule. Niedergelassene Ärzte sollen jetzt kurzfristig das Gesundheitsamt bei dieser Aufgabe entlasten.

Olena Basova lebt seit acht Jahren in Deutschland. Die Ärztin arbeitet auf der Intensivstation im Harzklinikum Quedlinburg. „Corona hat mir weniger Angst gemacht, als der Krieg jetzt in meiner Heimat. Bei Corona weiß ich zumindest, was ich tun kann und muss.“ Olenas Familie lebt in der ukrainischen Region von Dnepropetrovsk. Am Abend vor Ausbruch des Krieges kam die Mutter zu Besuch in Quedlinburg an, die Schwester und der Neffe kamen kurz darauf nach. Jetzt sucht Olena eine Wohnung für die Familie. Ihr Vermieter duldet keinen Langzeitbesuch. Sie geht mit Stefan Unterlagen durch. Danach berät sie andere Frauen und hilft im Gespräch als Übersetzerin.

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Olena Basova (rechts) und Inna Laue (Mitte) helfen bei der Übersetzung eines Antrags (Foto: Diakonie Mitteldeutschland)

Es ist jetzt Freitagnachmittag, kurz vor 16 Uhr. Die Frauen und Kinder sind gegangen. Manche von ihnen haben sich von der Beratung mehr erhofft. Stefan hat die Frauen um Geduld gebeten. Er hat ihnen seine Diensthandy-Nummer und Mailadresse gegeben. Per Nachrichten-App „Signal“ können Texte und Dokumente ausgetauscht werden. Montag ist Stefans Bürotag im Homeoffice. Er hat eine lange Liste angelegt. Mit Telefonaten und E-Mails wird er Behandlungsscheine besorgen, Termine im Sozialamt und Jobcenter vereinbaren, Schulen und Kitas anfragen. Er wird Verträge prüfen und Vermieter kontaktieren, wird Hilfen mit Kommunen und dem Landkreis abstimmen und alles dokumentieren, denn seine Beratungsarbeit muss mit den öffentlichen Geldgebern abgerechnet werden.

Stefan, siehst Du Dich durch die Arbeit hier konfrontiert mit einem schwer zu ertragenden Weltgeschehen? „Ich informiere mich natürlich, aber ich beschränke meinen Nachrichtenkonsum ganz bewusst. Ich habe keinen Einfluss auf die große Politik, aber ich kann hier etwas tun. Und das will ich ohne die Angst und den Druck machen, die ich spüre, wenn ich mich den Bildern in den Medien aussetze.“

16.15 Uhr, Feierabend. Wir verlassen die Kreisvolkshochschule. Stefan reibt sich die Schläfen, die Fragen und Gespräche wirken nach. Von der anderen Straßenseite ruft und winkt ein Mann: „Hallo, Stefan!“, „Hallo, Nidhal!“, ruft Stefan zurück. Und erklärend zu mir gewandt: „Ein alter Freund …“.

Hintergrund: Stefan Blasek ist Migrationsberater in Quedlinburg und Mitarbeiter im Diakonischen Werk im Kirchenkreis Halberstadt. Die Migrationsberatung hilft asylsuchenden und bleibeberechtigen Menschen dabei, in der Region Fuß zu fassen und sich in eine neue Gesellschaft einzugewöhnen. Das Beratungsangebot umfasst Fragen rund um das Asyl- und Aufenthaltsrecht, der Arbeits- und Wohnungssuche und der Schulpflicht. Gleichzeitig bieten die Beraterinnen und Berater Hilfe in psychosozialen und familiären Fragen, unterstützen bei Behördengängen oder haben einfach nur ein offenes Ohr für die Anliegen und Bedürfnisse der Ankommenden. Mehr dazu erfahren Sie auf der Seite der Diakonie Halberstadt.

Begleitet wurde Stefan Blasek einen Tag lang von Frieder Weigmann, Pressesprecher der Diakonie Mitteldeutschland.